Verkehrssicherheit 2030 - Fahrzeugsicherheit im Umfeld von neuen Rating- und Gesetzesanforderungen

(Berlin/Düsseldorf, 02.12.19)
Statement von Prof. Dr. Steffen Müller zum VDI-Pressegespräch "Verkehrssicherheit 2030 - Herausforderungen, Chancen und Potenziale auf dem Weg zur Vision Zero."

Die Entwicklung der Automobiltechnologie befindet sich in einem radikalen Umbruch. Elektrifizierung, Autonomes Fahren und Vernetzung führen zu einer Vielzahl von neuen Herausforderungen und technischen Lösungen in der Automobilindustrie. Während sich Elektrifizierung insbesondere auf den CO2- und Schadstoff-Ausstoß auswirkt, ergeben sich aus autonomem Fahren und vernetzten Fahrzeugen große Potenziale für die Verbesserung des Fahrerlebnisses und die Erhöhung der Fahrzeugsicherheit.

Im Bereich der Fahrzeugsicherheit wurde in der Vergangenheit zwar bereits viel erreicht – Anfang der 70er Jahre wurden in Deutschland über 20.000 Menschen pro Jahr im Straßenverkehr getötet, im Jahr 2018 betrug die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland nur noch 3.275 – allerdings sterben hierzulande im Durchschnitt immer noch neun Menschen pro Tag. 2018 kam es zu knapp 69.000 Schwerverletzten und die Anzahl der Verkehrstoten pro Jahr stagniert seit fast zehn Jahren. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch in der EU, wo 2018 etwa 25.100 Menschen durch Verkehrsunfälle ums Leben kamen. Obwohl dies innerhalb der EU einem Rückgang um 21 Prozent gegenüber 2010 entspricht, wird die angestrebte Halbierung der Verkehrstoten gegenüber 2010 bis 2020 weit verfehlt werden.

Positive Effekte, wie z.B. eine höhere Marktdurchdringung von verbesserten Insassenschutzsystemen, scheinen sich mit negativen Effekten, wie beispielsweise einer höheren Anzahl von Unfallrisikogruppen im Straßenverkehr, aufzuheben. Zu diesen Unfallrisikogruppen zählen ungeschützte Verkehrsteilnehmer und dabei insbesondere ältere Menschen. Es ist daher die große Hoffnung, dass weiterentwickelte Fahrerassistenzsysteme, autonome Fahrfunktionen und zunehmende Vernetzung zu einer signifikanten Reduzierung der heutigen Anzahl von Verkehrstoten und Schwerverletzten führen werden. Daher wurde in diesem Jahr vom EU-Parlament eine Vielzahl von Gesetzesanforderungen verabschiedet, die zu einer deutlichen Verbesserung der Fahrzeugsicherheit führen sollen. Rating-Agenturen, wie Euro NCAP, passen ihre zukünftigen Testmethoden und Bewertungen entsprechend an.

Simulation eines Notbremsassistenten. Bild: Fachgebiet Kraftfahrzeuge, TU Berlin

Die vom EU-Parlament im April 2019 beschlossenen Verordnungen zur Typgenehmigung und Fahrzeugzulassung werden einen deutlichen Beitrag zur Erhöhung der Fahrzeugsicherheit leisten.
Die vom EU-Parlament verabschiedeten Gesetzesanforderungen sehen die verpflichtende Einführung von einer Vielzahl von Fahrerassistenzsystemen, Systemen zur Fahrer- und Fahrzeugüberwachung sowie Systemen für hochautomatisierte, vollautomatisierte und fahrerlose Kraftfahrzeuge vor. Diese Verordnungen sollen größtenteils ab 2022 für die Genehmigung neuer Fahrzeugtypen und 2024 für die Zulassung neuer Fahrzeuge gelten. Beispiele hierfür sind Notbremsassistenzsysteme für Hindernisse und fahrende Fahrzeuge, Spurhalteassistenzsysteme, Abbiegeassistenzsysteme für Lkw und Busse, Fahrermüdigkeits- und Fahreraufmerksamkeitserkennung oder Schnittstellen zur Nachrüstung alkoholempfindlicher Wegfahrsperren. Dabei kann beispielsweise durch den Einsatz von Notbremsassistenzfunktionen die Anzahl von tödlichen Unfällen im Längsverkehr verringert werden, deren Anteil bei circa 25 Prozent liegt. Mit Spurhalteassistenzsystemen kann eine Vielzahl von Fahrunfällen vermieden werden, die etwa ein Drittel der heutigen tödlichen Verkehrsunfälle ausmachen, und die Vermeidung von Ablenkung kann Schätzungen zufolge 10-30 Prozent aller tödlichen Unfälle verhindern.

Zukünftige Fahrzeugsicherheitsfunktionen verlangen neuartige Prüfverfahren für Zulassung und Ratings.
Heutige Prüfverfahren für Zulassung und Ratings umfassen bereits verschiedene Tests zum Sicherheitsnachweis im Bereich Insassenschutz, Kindersicherheit, Schutz ungeschützter Verkehrsteilnehmer und Aktive Sicherheit. Im Vordergrund steht hier eine „technikbasierte“ Bewertung der Wirkung eines konkreten Sicherheitssystems unter genau spezifizierten Testbedingungen. Mit der Einführung weiterer intelligenter und automatisierter Sicherheitssysteme, wie beispielsweise Notbrems- oder Spurhalteassistenz, wird der Funktions- und Sicherheitsnachweis für unterschiedliche Randbedingungen zunehmend wichtiger. Daher werden zukünftig für Zulassung und Ratings „szenario-basierte“ Prüfverfahren, die auch unterschiedliche Arten der Intervention zulassen, eine immer größere Rolle spielen. Um die Vielzahl unterschiedlicher Szenarien abdecken zu können, wird dabei auch zukünftig die numerische Simulation einen wichtigen Anteil haben.  

Zusammenfassung
Gesellschaftliche Entwicklungen im Bereich der Mobilität durch neue technologische Möglichkeiten, Klimawandel, veränderte Ansprüche an das Fahrerlebnis und weitergehende Erwartungen an die Verbesserung der Fahrzeugsicherheit verlangen neue Gesetzes- und Ratinganforderungen. Dies stellt die Industrie und Wissenschaft vor große Herausforderungen, eröffnet aber auch große Potenziale, die Mobilität von morgen deutlich effizienter, angenehmer und sicherer als bisher zu gestalten.

Autor
Prof. Dr.-Ing. Steffen Müller, Leiter des Fachgebietes Kraftfahrzeuge, Technische Universität Berlin. Bild: TU Berlin

Darüber hinaus ist er Experte bei der Berliner-Erklärung des VDI zur Verkehrssicherheit 2019. Das Expertenmedium entstand 2011 aus dem Umfeld der aktiven Experten rund um die Tagung „Fahrzeugsicherheit“ des VDI Wissensforums. Das Gremium erarbeitet kontinuiertlich mit wechselnden Schwerpunktthemen Lösungsvorschläge zur Erreichung der „Vision Zero“. Ziel der „Vision Zero“ ist, dass es ab 2050 soll es nahezu keine Verkehrstoten mehr geben soll. Prof. Dr. Müllerist einer der beiden Leiter der Tagung „Fahrzeugsicherheit“ des VDI Wissensforums.