Die VDI‐Richtlinie 2017 „Medical Grade Plastics“ schafft Klarheit und verbindliche Vorgehensweisen für Kunststoffe in Medizinprodukten

Von Thomas Seul und Stefan Roth, Schmalkalden

Der ohnehin schon anspruchsvolle Vorgang der richtigen Werkstoffauswahl im Rahmen der Entwicklung erfordert bei Medizinprodukten die Berücksichtigung zusätzlicher kritischer Qualitätsattribute, wie beispielsweise die biologische Beurteilung.

Medizinprodukte dürfen den Patienten während der Anwendung nicht aufgrund der verwendeten Materialien oder Herstellungsprozesse schädigen. Es muss die biologische Verträglichkeit, auch als Biokompatibilität bezeichnet, nachgewiesen werden.

In der Praxis behilft sich der Produktentwickler bei der Werkstoffauswahl von Kunststoffen, indem er sich an von den Rohstoffherstellern und Distributoren beworbenen „Medical Grade“-Typen orientiert. Diese verfügen häufig über Nachweise der Biokompatibilität des Kunststoffs gemäß US-amerikanischen oder europäischen Normen und Regelwerken wie USP <87>, USP <88> Biological Reactivity Testing (USP Class VI) oder ISO 10993 (Biologische Beurteilung von Medizinprodukten.

Diese Nachweise implizieren jedoch, dass der Werkstoff für den Einsatz bei Medizinprodukten ausreichend spezifiziert ist. Weitergehende Regelungen und Vorgehensweisen, die für Kunststoffe in Medizinanwendungen wichtig sind, wie beispielsweise Konstanz der Rezeptur, eine sichere Lieferversorgung oder auch Änderungsmanagement, sind dabei noch nicht betrachtet.

Hinzu kommt, dass bis dato keine US- oder EU-Richtlinien oder Normen existieren, in denen Standards beschrieben werden, um eine eindeutige Definition von „Medical Grates Plastics“ zu spezifizieren.

Grundsätzlich beschreibt biologische Beurteilung von Medizinprodukten die ISO 10993-1. In diesem Zusammenhang ist die Materialcharakterisierung ein entscheidender erster Schritt im Prozess der biologischen Beurteilung. Wenn die biologische Prüfung von Medizinprodukten als Teil des gesamten Risikomanagementprozesses für notwendig erachtet wird, muss folgendes beachtet werden:

Gemäß der ISO 10993 bedeutet dies: „Die Prüfung muss am sterilen Endprodukt oder an repräsentativen Proben vom Endprodukt oder von Materialien, die in der gleichen Weise wie das Endprodukt verarbeitet wurden (einschließlich Sterilisation), vorgenommen werden.“ Definiert ist in diesem Zusammenhang das Endprodukt als Medizinprodukt im gebrauchsfähigen Zustand, wie in der Spezifikation oder Kennzeichnung durch den Hersteller festgelegt.

In der Praxis bedeutet dies, dass der sogenannte „Inverkehrbringer“ für den Nachweis der biologischen Beurteilung am Endprodukt verantwortlich zeichnet. Da der Herstellprozess einen erheblichen Einfluss auf die biologische Beurteilung haben kann, ist es nicht ausreichend, wenn lediglich der Nachweis über den Werkstoff als Rohstoff geführt wird. So ist davon auszugehen, dass thermische Effekte, Werkstoffpaarungen, Bedruckung, Klebungen, Sterilisation usw. das Ergebnis der Biologische Beurteilung beeinflussen können und daher in die Betrachtung der biologischen Beurteilung zu berücksichtigen sind. Der Nachweis einzig am Granulat ist gemäß den Regularien somit nicht ausreichend, trägt aber erheblich zur Risikominimierung im Rahmen der Werkstoffauswahl bei und gibt die grundsätzliche Richtung vor.

Die Verantwortlichkeit kann daher nicht einfach auf Materiallieferanten oder die -hersteller übertragen werden. Diese können lediglich durch besondere und besonnene sowie reproduzierbare und festgeschriebene Maßnahmen und Vorgehensweise zu einem erheblichen Teil dazu beitragen, negative Einflüsse auf den Werkstoff zu vermeiden. Ziel ist es so, mittels Kontinuität in Werkstoff und Prozess eine aufwendig nachgewiesene biologische Beurteilung von Medizinprodukten im fortlaufenden Herstellprozess unabhängig von der Materialcharge aufrecht zu erhalten.

Unter Beachtung der zuvor beschrieben komplexen Anforderungen, aus denen sich u.a. Werkstoffspezifikationen, Prozesse und Verantwortlichkeiten ableiten, wurde durch den VDI-Richtlinienausschuss VDI 2017 „Medical Grade Platics“ ein Leitfaden in Form einer VDI-Richtlinie entwickelt, durch die Anforderungen an ein Medical Grade Plastics dezidiert beschrieben werden. Der Geltungsbereich umfasst die Anwendungen Medizinprodukt, pharmazeutische Verpackung, In‐Vitro‐ Diagnostika sowie aktive implantierbare medizinische Geräte. Im Januar 2017 nahm der Richtlinienausschuss, der sich aus Inverkehrbringern, Herstellern, Materialherstellern, Vertretern benannter Stellen (Notified Body) sowie der Hochschule Schmalkalden zusammensetzt, seine Arbeit auf. Im Januar 2018 konnte der Entwurf, der sogenannte Gründruck, zur Drucklegung freigegeben werden. Die nächsten Schritte für den Richtlinienausschuss sind jetzt

  • April 2018: Vorstellung Gründruck auf der 9. VDI-Dreiländertagung 2018 „Kunststoffe in der Medizintechnik vom 10. – 11. April 2018, Friedrichshafen,
  • Ende 2018: finale Fassung (Weißdruck) nach Ablauf einer 6-monatigen Einspruchsfrist und danach
  • regelmäßige Überprüfung der Richtlinie alle 5 Jahre.

Die Richtlinie basiert auf allgemein anerkannten Regeln der Technik. Sie definiert somit Bewertungsmaßstäbe für diesen Bereich ohne existierende Normung. Veröffentlicht wird die Richtlinie zweisprachig (deutsch – englisch).

Bei der Erstellung wurde nach dem Prinzip des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ vorgegangen, der die Mindestanforderungen an ein Medical Grade Plastics unabhängig von Medizinprodukt und eingesetzter Kunststoffart festschreibt. Ein „mehr“ an Absprachen kann zwischen Kunde und Lieferant immer zusätzlich bilateral vereinbart werden.

In der Richtlinie wurde insbesondere der Fokus auf

  • Rezepturkonstanz,
  • Liefersicherheit,
  • Änderungsmanagement und einer
  • Qualitätsvereinbarung als Schlüsseldokument für die Vereinbarungen zwischen Kunde und Lieferant gelegt.
     

Fazit

Klarheit schafft Sicherheit. Es ist zu erwarten, dass die beschriebenen Definitionen und Vorgehensweisen der VDI 2017 Medical Grade Plastics einen Standard setzen, der in der Branche schon längst überfällig ist. In einem streng regulierten Umfeld, wie es in der Medizintechnik üblich und auch notwendig ist, bildet diese als Leitfaden zu verstehende Richtlinie eine Hilfestellung für alle an dem Herstellungsprozess beteiligten Akteuren.

1. Anwendungsbereich
2. Normative Verweise
3. Begriffe und Definitionen
4. Formelzeichen und Abkürzungen
5. Definition Medical Grade Plastics
6. Definition der Rollen, Zuständigkeiten und Begriffe
7. Regulatorische Anforderungen an Medical Grade Plastics
8. Rezepturkonstanz
9. Liefersicherheit

- Einleitung und Definition der Rezeptur eines MGP
- Bedingungen für die Rezepturkonstanz
- Bewertung der Rezepturkonstanz
- Information und Dokumentation

10. Änderungsmanagement (Change‐Management)
11. Verpackung, Lagerung und Logistik
12. Kunden‐Lieferantenbeziehung
13. Anhang

- Beispiel zur Qualitätsvereinbarung
- Beispiel zur Risikobetrachtung (Risk Assessment)
- Beispiel zu Konformitätsbewertungen von MGPs
- Risikofaktoren bei der Verarbeitung

Merkmale von Medical Grade Plastics
  • Änderungsmanagement im Hinblick auf etwaige geplante Änderung der Werkstoffspezifikation oder Zusammensetzung, des Herstellortes sowie der Herstelltechnologie und Änderungen des regulatorischen Status,
  • Qualitätsmanagementanforderungen im Hinblick auf Entwicklung, Produktion und Handling von MGPs,
  • Gewährleistung der Liefersicherheit und Verfügbarkeit sowie Anforderungen an die Logistik von MGPs und
  • der Unterstützung bei der Erfüllung von für den Inverkehrbringer verbindlichen regulatorischen Vorgaben, wie z.B. Prüfungen oder Biokompatibilität.
     
Regulatorische Bewertung
  • Konformitätsbewertung am finalen Medizinprodukt,
  • MGP‐Hersteller kann z.B. Biokompatibilitätsuntersuchungen am Granulat durchführen. Diese dienen jedoch nur zur Vorbewertung.
  • Hinweis: Das Risiko des Verarbeitungseinflusses auf biologische Beurteilung muss berücksichtigt werden
  • Beispiele und Bewertung gängiger Konformitätsbewertungen:
    • USP <87> Biological Reactivity Testing, in vitro, USP <88> Biological Reactivity Testing, in vivo (USP Class VI) und ISO 10993 – Biologische Beurteilung von Medizinprodukten,
    • Kunststoffe für den direkten Lebensmittelkontakt („Lebensmittelzulassung“ – „food contact“)Europäische Pharmakopöe (Ph. Eur.),REACH, RohS.
       
Rezeptur

Die Rezepturkonstanz ist die wesentliche Voraussetzung für konstante Eigenschaften und definiert sich durch

  • Konstanz der Komponenten und Lieferanten,
  • Konstanz im Herstellprozess.

Bei Abweichung der Konstanz erfolgt eine Risikobewertung durch den Hersteller sowie die Information an den Kunden. Die Dokumentation zur Konstanz und Bewertung wird dem Kunden bei Bedarf zur Verfügung gestellt. Additive mit eindeutiger Definition durch CAS-Nr. sind nicht anzeigepflichtig.
 

Liefersicherheit (Security of Supply)

Ein Konzept zur Liefersicherheit muss vorliegen. Hieraus ergeben sich verschiedene Maßnahmen, die vereinbart werden, wie beispielsweise: Sicherheitsbestand, alternativer Produktionsstandort oder -linie, usw. Weitere Elemente der Liefersicherheit als Bestandteil der Qualitätsvereinbarung sind

  • Anzeige einer Änderung (Notification of Change), Zeiträume bis zur Umstellung bzw. Einführung der Änderung (Notification Period), i.d.R. 24 Monate,
  • Mengenvereinbarungen: Mengenbezug bis zur Umstellung, Anzeige und letztmalige Bestellung vor Umsetzung der Änderung (Last Order Call), Empfehlung 12 Monate.

Die Fristen sind Empfehlung der Richtlinie und werden letztendlich zwischen Lieferant und Kunde vereinbart.
 

Änderungsmanagement (Change Management)

Betrifft Änderungen die Konstanz des MGPs betreffend, d.h.

  • Konstanz der Rezeptur in deren Zusammensetzung, der Komponenten, des Herstellprozesses,
  • Änderungen betreffend Liefersicherheit,
  • Änderungen betreffend Konformitätserklärungen.
     
Ablauf:

Bewertung Änderung durch Lieferant → Change Request an Kunde → Information an Kunde zur Änderung → Abschließende Bewertung durch Kunde

Die Sicherstellung der Informationsweitergabe Hersteller → Inverkehrbringer erfolgt durch Weitergabe der Information immer von Lieferant zu Kunde.
 

Qualitätsvereinbarung: Kunde ↔ Lieferant

Die Qualitätsvereinbarung nimmt eine zentrale Rolle in der Kunden‐Lieferanten‐Beziehung ein und wird zwischen Lieferant und Kunde fixiert. Die Inhalte beziehen sich auf folgende Punkte:

  • Informationen zur Rezeptur des MGPs,
  • Informationen zum Herstellprozess,
  • Vereinbarungen zur Rezeptur‐ und Herstellkonstanz,
  • Absprachen und Vereinbarungen zur Liefersicherheit,
  • Vereinbarungen zum Änderungsmanagement,
  • Konformitätsbewertungen,
  • Anforderungen an Logistik etc.