Professionelle Leitung von KI-Projekten in der Industrie – wie geht Systems Engineering mit KI?

Inspiriert von den Erfolgsmeldungen jüngerer Zeit entschließen sich immer mehr Unternehmen selbst KI-Initiativen zu starten. An vielen Stellen kann die KI ihren Wert unter Beweis stellen – und doch ist es eine Herausforderung über einen Proof-of-Concept hinaus bis in den langfristigen Betrieb zu kommen. An dieser Stelle sind insbesondere die Projektleitenden gefragt Anforderungen zu antizipieren und abzustimmen, Datenbedarfe und Aufwände zu schätzen und die Verknüpfung KI-basierter Entwicklung mit klassischen Ingenieurdisziplinen zu koordinieren. Hierfür gibt es eine Reihe von Werkzeugen und Frameworks, die die Projektleitenden in dieser Aufgabe unterstützen.

KI-Engineering, was ist das?

KI-Engineering [1] ist ein Kunstbegriff, der sich aus der Verbindung von Systems Engineering mit der Künstlichen Intelligenz ergibt. Er grenzt sich ab von KI-Anwendungen, die freistehend als reine Software-Lösungen eingesetzt werden können.

KI-Engineering adressiert die systematische Entwicklung und den Betrieb von KI-basierten Lösungen als Teil von Systemen, die komplexe Aufgaben erfüllen.

Die Abgrenzung zwischen „normaler KI“ und KI-Engineering lässt sich Anhand von drei Anwendungsdimensionen zeigen. In dem resultierenden Würfel kann sich jede Anwendung verorten. Darüber lassen sich viele Herausforderungen in der Entwicklung und im Betrieb bereits früh vorhersehen.

Kritikalität

Diese Dimension bezieht sich auf die Auswirkungen eines nicht funktionierenden Systems auf Sicherheit (für Menschen und Systeme), geschäftskritische Funktionalität, Datenschutz und weitere Risiken

Organisatorische Komplexität

Diese Dimension bezieht sich auf den Mehraufwand, der nötig ist, um die Entwicklung und den Betrieb eines KI-Systems zu koordinieren. Dies ist besonders relevant bei Arbeiten in großen, heterogenen Teams oder bei notwendigen Abstimmungen, Austausch von Daten, etc. über mehrere Firmen hinweg.

Physikalität

Diese Dimension bezieht sich darauf, wie stark die Anwendung Bezug zur physischen Welt und eine direkte Beziehung zu den Naturwissenschaften (Physik, Chemie etc.) und den klassischen Ingenieursdisziplinen hat. Hieraus lässt sich erkennen, ob Vorwissen aus diesen Disziplinen existiert und mit KI-basierten Verfahren kombiniert werden kann. Schwierigkeiten ergeben sich durch die Einbettung der KI in ein reales (Echtzeit-) System mit nur teilweiser Beobachtbarkeit durch Sensoren und externen Störeinflüssen.

Iteratives Vorgehen für die Validierung eines Lösungsansatzes für einen Proof-of-Concept

Lineare und agile Entwicklungsmodelle

In einer initialen Proof-of-Concept Phase gibt es zumeist Unsicherheit hinsichtlich des Lösungsansatzes und des Datenbedarfs. Agile Entwicklungsansätze, wie zum Beispiel SCRUM, ermöglichen ein iteratives Vorgehen und das Nachjustieren des Lösungsansatzes im Rahmen eines formalen Vorgehens bei der Entwicklung. Für KI-Entwickler aus der Software-Welt ist dies ein bekanntes Vorgehen, während klassische Ingenieur*innen vielfach noch nicht damit vertraut sind.

Phasen des Vorgehensmodells ML4P (Machine Learning for Production)

Bei der Fortentwicklung eines Proof-of-Concept in ein System für den Dauerbetrieb kann es Sinn machen zu einer klassischen linearen Projektplanung (Wasserfall, V-Modell, etc.) zu wechseln. Gründe dafür können sein, notwendige Lieferzusagen anhand einer Spezifikation über Team- und Organisationsgrenzen hinweg oder die Einbettung der KI-Entwicklung in einen Gesamt-Entwicklungsprozess, der stark von Gewerken aus den klassischen Ingenieurdisziplinen getrieben wird.

Das am Fraunhofer IOSB entwickelte Vorgehensmodell ML4P (Machine Learning vor Production [2]) empfiehlt agile Lösungsansätze für die Entwicklung eines Proof-of-Concept und Phasen mit klaren Phasenergebnissen für die Strukturierung der Gesamtentwicklung bis zum Betrieb.

Anforderungen für den dauerhaften Betrieb antizipieren

Ein Proof-of-Concept muss er nicht sonderlich stabil oder benutzerfreundlich sein. Um im dauerhaften Betrieb einen Wert zu erbringen, müssen KI-basierte Lösungen darüber hinaus deutlich mehr Anforderungen berücksichtigen. In der Folge stellen wir einige typische Anforderungen für den dauerhaften Betrieb zusammen. Diese frühzeitig zu antizipieren und mit den letztlichen Benutzern abzustimmen ist wichtig für den Erfolg eines Entwicklungsprojektes. Die folgende Tabelle zeigt einige typischen Kategorien von Anforderungen für den Betrieb auf.

  • Performance (Vorhersagegenauigkeit, Geschwindigkeit, etc.)Langfristige Verfügbarkeit von Hardware und Entwickler-Know How
    Laufzeitüberwachung und Anpassung der KI-Modelle an Drifts und Änderungen im System nach der InbetriebnahmeDeployment-Umgebung (Cloud vs. Edge, Nutzung Kommerzielle KI-Plattformen)
    Zertifizierung in regulierten Industrien (Medizin&Pharma, Mobilität, etc.)Nutzer-Akzeptanz (Usability, Training, Change Management)

Kategorien von Anforderungen an KI-Lösungen im dauerhaften Betrieb

Projektplanung – der Data Bottleneck in KI-Projekten

Der Daten-Bottleneck bezieht sich auf die Herausforderung, die richtigen Daten zum richtigen Zeitpunkt verfügbar zu haben. Zu Beginn eines Projektes besteht häufig Unklarheit darüber, welche und wie viele Daten wann benötigt werden. Die Unternehmen können initial sehr viele Daten verfügbar haben. Aber die kritischen Fälle, wie etwa Anomalien, sind meistens unterrepräsentiert. Die Beschaffung zusätzlicher Daten ist dann oft aufwändig und liegt im kritischen Pfad eines Projektes.

Der Datenbedarf für maschinelles Lernen ist abhängig vom verwendeten Verfahren. Aus dem gewählten Lösungsansatz lässt sich grob abschätzen, in welcher Größenordnung Daten benötigt werden. Zusätzlich relevant sind die Dimensionalität der Daten und die Komplexität der Zusammenhänge.

1. Überwachtes Lernen

  • Erlernen von Eingangs-Ausgangs-Beziehungen
  • Beispiel: Qualitätsvorhersage anhand von Materialeigenschaften und Maschineneinstellungen
  • Bei einfachen Problemen sind hunderte Beispiele bereits ausreichend – eine manuelle Durchführung von Experimenten ist dafür noch möglich

2. Unüberwachtes Lernen

  • Erlernen von Struktur in einem Datensatz
  • Beispiel: Anomalie-Erkennung durch den Vergleich mit vergangen Zuständen und Zustandsübergängen
  • Typischerweise sind Tausende von Beispielen notwendig – meist nur über eine automatisierte Datenaufnahme erreichbar

3. Reinforcement Learning

  • Erlernen von Verhaltensstrategien durch Bestrafung und Belohnung
  • Beispiel: Erlernen der besten Strategie für eine Ampelschaltung
  • Hunderttausende bis Millionen von Beispielen benötigt, in denen auch Schlechtverhalten vorkommt – nur in der Simulation erreichbar

Zusammengefasst stehen für Projektleitende Werkzeuge zur Verfügung, die den Einsatz von KI planbar machen und Risiken bei der Entwicklung minimieren. Dennoch ist das Thema noch sehr jung und entwickelt sich schnell weiter. Mit dieser Weiterentwicklung erhöht sich im Gegenzug die Nützlichkeit der KI-Verfahren immer weiter und es entsteht ein Grundstock an mächtigen Standard-Verfahren, die mit geringem Aufwand als Lösungsansatz für eine Problemstellung getestet und validiert werden können – so denn die richtigen Daten zur Verfügung stehen.

Referenzen

[1] Pfrommer, Julius, Thomas Usländer, and Jürgen Beyerer. "KI-Engineering–AI Systems Engineering: Systematic development of AI as part of systems that master complex tasks." at-Automatisierungstechnik 70.9 (2022): 756-766.
[2] www.iosb.fraunhofer.de/en/projects-and-products/ml4p-machine-learning-production.html

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Über die Autoren

Dr.-Ing. Julius Pfrommer

Dr.-Ing. Julius Pfrommer leitet die Abteilung für Kognitive Industrielle Systeme am Fraunhofer IOSB. Er hat Ingenieurabschlüsse vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Institut National Polytechnique in Grenoble. Seinen Doktortitel in Informatik (summa cum laude) erwarb er ebenfalls am KIT. Zu seinen Forschungsinteressen gehören verteilte Systeme, Planung unter Unsicherheit und der Einsatz von maschinellem Lernen für die Modellierung, Optimierung und Steuerung von cyber-physischen Systemen.

LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/juliuspfrommer/

Dr.-Ing. Thomas Usländer

Thomas Usländer ist promovierter Diplom-Informatiker des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Er ist Business Developer KI-Engineering in der Abteilung Informationsmanagement und Leittechnik (ILT) und stellv. Sprecher des Geschäftsfeldes Automatisierung und Digitalisierung am Fraunhofer IOSB, Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte sind KI-Engineering, industrielle Datenräume, offene Systemarchitekturen sowie Plattformökonomie in der Industrie 4.0. Er ist Leiter Teilvorhaben „Datenplattform“ und „KI-Challenge“ der KI-Allianz Baden-Württemberg sowie Leiter des Karlsruher Kompetenzzentrums für KI-Engineering (CC-KING). Er ist Mitglied im Standardization Council Industrie 4.0 (SCI 4.0) sowie im DIN/DKE Expertenrat KI. Dr. Usländer erhielt 2017 den DIN-Innovationspreis zu Industrie 4.0.

LinkedIn: http://www.linkedin.com/in/tuslaender
Research Gate: http://www.researchgate.net/profile/Thomas_Uslaender