Herr Plagge, steht Ihrer Einschätzung nach die Automotive-Branche mittlerweile geschlossen hinter der Open Source Software-Entwicklung?
Die Automotivebranche ist sich meiner Meinung nach einig, dass sich ein modernes Auto nicht ohne Open Source (OSS) realisieren lässt. Daher ist die Verwendung von OSS-Projekten und Bestandteilen heute in allen Bereich der Automobilindustrie möglich und gewünscht. Anders sieht meines Erachtens die Situation noch aus, wenn es darum geht, gemeinsam relevante Teile aus dem nicht wettbewerbsdifferenzierenden Teil des Softwarestacks zu entwickeln.
In Teilen der Automobilindustrie ist man hier zu der Einschätzung gelangt, dass eine solche Kooperation aus den verschiedensten Gründen notwendig ist. Andere Marktteilnehmer aber glauben immer noch, dass sie die Implementierung eines solchen Stack vollständig selbst verantworten müssen. Zum Teil laufen die “Bruchlinien” zwischen diesen Positionen sogar innerhalb der großen Automobilfirmen.
Insgesamt ist bei den meisten Organisation aus der klassischen Automobilindustrie noch ein Mindset-Change notwendig. Und dieser beschränkt sich nicht nur auf die technische Entwicklung, sondern umfasst die gesamte Organisation, wie zum Beispiel den Einkauf und allgemeine Prozesse.
Kommt diese Sichtweise pro Open Software aus einem inneren Antrieb – oder wurde dieses Umdenken eher durch äußere Faktoren wie Wettbewerbs- und Kostendruck, Inflation oder die weiterhin angespannte Beschaffungssituation beschleunigt?
Die Sichtweise “pro OS” wurde anfänglich eher über äußere Faktoren getrieben. Neben den erwähnten Gründen würde ich beispielsweise noch den Mangel an Fachkräften und Entwicklern nennen. Zunehmend lässt sich aber auch ein interner Antrieb erkennen. Vielfach wurde erkannt, dass eine offene, transparente und vendor-neutrale Kooperation Innovation massiv beschleunigen kann. Vor dem Hintergrund OS-getriebener Entwicklungen im Bereich Cloud und Künstliche Intelligenz, bei denen die offene Kollaboration häufig als Katalysator für Innovation gedient hat, stellen sich mehr und mehr Organisationen die Frage, ob dies nicht auch im Automotivbereich möglich sein könnte und müsste.
Welche zentralen Chancen und Erwartungen verbinden Sie mit der Open-Source-Softwareentwicklung für das Automobil von morgen?
Eine industrieweite Plattform für den nicht-wettbewerbsdifferenzierenden Teil des Softwarestacks und des dazugehörigen Entwicklungstoolchain, der nicht unter der Kontrolle eines einzelnen oder einiger weniger Akteure steht, sondern durch eine breite Gemeinschaft von Unternehmen entwickelt wird, würde aus meiner Ansicht eine Vielzahl von Vorteilen mit sich bringen:
- Fokus auf die wettbewerbsdifferenzierenden Teile des Softwarestacks. Fokussierung der limitierten, vorhandenen Ressourcen auf Endkunden-relevante Funktionen und eine erhöhte Qualität bei der Software
- Unabhängigkeit von einzelnen oder wenigen großen Playern, die heute die Plattformen dominieren
- Nutzen von Expertise und Beiträgen aus breiten Bereichen (Automotive, Cloud, Software), die gemeinsam in die OS Projekte einfließen
- Mehr Chancen für KMUs, sich mit Innovationen zu positionieren, da Portierungs- und Migrierungsaufwände geringer werden oder im besten Falle gleich ganz entfallen
Wie werden sich Partnerschaften entlang der Wertschöpfungskette neu ordnen?
Partnerschaften etwa zwischen den OEMs und Zulieferern dürften sich stark vereinfachen. Ein zentraler Vorteil: Das heute notwendige, sehr stark ausgeprägte Spezialwissen und die damit gebundenen Ressourcen, die üblicherweise nicht zur Wertschöpfung beitragen, wird deutlich reduziert. Freiwerdende Ressource können somit in anderen, relevanten Bereichen genutzt werden.
Erschweren es rechtliche Rahmenbedingen etwa aus dem Kartell- oder Haftungsrecht, Open Source herstellerübergreifend zu denken?
Ich denke nicht. Die Nutzung von Open Source Komponenten ist Stand heute gelebte Praxis in der Automobilindustrie. Die einzige neue Frage, die sich stellt, ist es, ob die neue Form der Kollaboration und das Beitragen zu Open Source gegebenenfalls zu neuen rechtlichen Themen führt. Das sehen wir Stand heute aber eher nicht. So ist beispielsweise gerade die Zusammenarbeit in Open-Source-Projekten kartellrechtlich auf der “sicheren Seite” und damit sehr viel einfacher als in „geschlossenen Konsortien“.
Stichwort „Fit for OSS“: Was ist notwendig, um auch KMU für die Beteiligung an Open-Source-Entwicklung zu befähigen?
Ich glaube, das OSS häufig überhaupt erst die Voraussetzung für KMUs schafft, im Automotive-Ökosystem aktiv zu werden. Heute bräuchte man Zugriff auf proprietäre OEM-spezifische Schnittstellen, um beispielsweise Funktionen in ein Fahrzeug einzubinden. Aber aus meiner Sicht ist Open Source nicht genug. Es braucht Open Source im Rahmen einer Foundation wie der Eclipse Foundation, um eine gemeinsam nutzbare Plattform zu schaffen und eben auch mittelständischen Unternehmen den Marktzugang zu vereinfachen. Der Mehrwert der Eclipse Foundation besteht darin, einen klar definierten, offenen, transparenten und neutralen Rahmen für die Kollaboration und die Beiträge der einzelnen Partner zu schaffen. Alles Dinge, die üblicherweise im Rahmen von Open Source Lizenzen nicht geregelt werden.
Wie ist die Eclipse Foundation aufgestellt, können Sie bitte mehr Details zur Arbeit der Stiftung schildern?
Gerne! Die Eclipse Foundation ist eine mitgliederbasierte, unabhängige, non-profit Foundation mit Sitz in Brüssel in der Rechtsform einer AISBL, die Einzelpersonen und Organisationen eine ausgereifte, skalierbare und unternehmensfreundliche Umgebung für die Zusammenarbeit und Innovation im Bereich Open-Source-Software bietet. Sie beherbergt die Eclipse IDE, Jakarta EE und über 415 weitere Open-Source-Projekte, Spezifikationen und Rahmenprogramme in vielen Technologiebereichen, darunter Cloud- und Edge-Anwendungen, das Internet der Dinge, künstliche Intelligenz, Automotive, Systemtechnik. Bosch, SAP, Mercedes, Cariad, BMW sowie Microsoft und RedHat zählen zu den mehr als 320 Mitgliedern.