Verkehrssicherheit 2030 - Der anspruchsvolle Grundsatz der "Vision Zero" – Position der Experten der „Berliner Erklärung des VDI“.

(Berlin/Düsseldorf, 02.12.19)
Statement von Prof. Dr. Rodolfo Schöneburg zum VDI-Pressegespräch "Verkehrssicherheit 2030 - Herausforderungen, Chancen und Potenziale auf dem Weg zur Vision Zero."

Bis 2030 wollen EU und Bundesregierung die Zahl der Verkehrstoten und Schwerverletzten halbieren.
Die „Vision Zero“ beinhaltet, dass ab 2050 kein Verkehrsteilnehmer mehr in Europa bei einem Unfall ums Leben kommen soll.
Auf dem Weg dorthin wird erwartet, dass sich die EU und die Bundesregierung auf ein neues Ziel verständigen werden: Bis 2030 sollen die Anzahl der Schwerstverletzten und Verkehrstoten gegenüber 2020 halbiert werden. Damit würde das ursprüngliche Ziel des Bundesverkehrsministeriums, eine Reduktion der Verkehrsopfer bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 2010 zu erreichen, durch ein Neues ersetzt werden.

Auch die Verkehrssicherheitsexperten des VDI unterstützen die Ziele der Bundesregierung. Die Idee, eine ‚Berliner Erklärung zur Fahrzeugsicherheit‘ vom VDI ins Leben zu rufen, wurde vor 10 Jahren am Rande der VDI-Tagung „Fahrzeugsicherheit“ geboren.
Diese Erklärung hat zum Ziel, die Bemühungen der deutschen Fahrzeugindustrie und aller anderen beteiligten Personen und Institutionen zur Gewährleistung einer hohen Sicherheit von Kraftfahrzeugen zu unterstützen.

Die Experten der Berliner Erklärung wollen dazu Impulse geben, welche die Entwicklung zu mehr Fahrzeugsicherheit beflügeln. Zu den verschiedenen Aktivitäten wurden mehrere Positionspapiere und Statusberichte des VDI über die Jahre veröffentlicht und kommuniziert, letztmalig 2018 zur Update-Veranstaltung in Mannheim.
Diese liegt seit Juni 2019 auch in englischer Sprache vor.
2020 befindet sich in greifbarer Nähe, deswegen bietet es sich an, eine Bilanz der Entwicklung der Verkehrssicherheit, gemessen am bisherigen Ziel der Bundesregierung, zu ziehen.

Entwicklung der Verkehrstotenzahl in Deutschland 1990-2019, Bild: Expertengremium Berliner Erklärung im VDI, Quelle: VDI / Statist. Bundesamt Destatis

Historisch niedrige Verkehrstotenzahlen, aber das für 2020 gesteckte Ziel der Bundesregierung ist nicht mehr zu erreichen.
Es steht inzwischen fest, dass das für 2020 gesetzte Ziel bezüglich der Reduktion der Zahl der Verkehrstoten nicht mehr zu erreichen ist.
Die Getötetenzahlen im Straßenverkehr entwickelten sich in Deutschland bis heute anders als es im Jahr 2010 prognostiziert wurde. War bis zu der Zeit ein nahezu linearer Abfall der Verkehrsopferzahlen zu beobachten, sind Fortschritte seitdem nur noch langsam zu erreichen. In den zwanzig Jahren von 1990 bis 2010 nahm die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland um etwa 7.400 ab, das sind im Schnitt pro Jahr etwa 300 bis 400 Getötete weniger. Im gesamten Zeitraum von 2010 bis heute beträgt die Reduktion nur noch insgesamt circa 500!

Es zeigt sich also eher eine Stagnation auf niedrigem Niveau. Aktuell gehen wir für das Jahr 2019, verglichen mit dem Vorjahr, erneut von einem leichten Rückgang der Anzahl der Unfallgetöteten aus. Sollte sich der positive Trend der ersten acht Monate bestätigen, wird zwar ein historisch niedriger Tiefststand mit circa 3.150 Verkehrstoten erreicht, er wird aber von dem gesteckten Ziel (2.334 Opfer) noch sehr weit entfernt sein.

Die Anzahl der getöteten PKW-Insassen hat sich über die Jahre deutlich verringert. Das gilt aber nicht für die anderen Verkehrsteilnehmer, was in Summe zu wenig veränderten Opferzahlen führt. Besonders die ungeschützten Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Radfahrer geraten zunehmend in den Fokus, deren Anteil an der Gesamtzahl der Getöteten nunmehr bei über 50 Prozent liegt.

Die Gefährdung im Straßenverkehr verlagert sich.
Angesichts der absehbaren Zielverfehlung stellt sich die Frage nach den Gründen.

Tatsächlich bleibt die Nichteinhaltung von elementaren Regeln im Straßenverkehr eine zentrale Unfallursache. Dazu gehören Themen wie nicht angepasste Geschwindigkeit oder die Ablenkung vom Fahren.
Parallel hält der Trend zu mehr getöteten ungeschützten Verkehrsteilnehmern und weniger getöteten Fahrzeuginsassen an. Im Jahr 2018 gab es im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg der Zahl der getöteten Radfahrer um mehr als 16 Prozent. Hier kommen zudem durch E-Scooter und die steigende Zahl von Pedelec-Fahrern neue Risiken hinzu. Auch bei den motorisierten Zweirädern werden ungeachtet der technischen Weiterentwicklungen Stillstand oder Rückschritt bei den Opferzahlen beobachtet.
Zieht man die Unfallstatistiken heran, ist deutlich erkennbar, dass mit Ausnahme des Pkw bei nahezu allen anderen Teilnehmern im Verkehr keine Reduzierung der Unfallopferzahlen zu verzeichnen ist. Autofahren wird also immer sicherer, was sich leider nicht im selben Maße auf die anderen Verkehrsteilnehmer übertragen lässt.

Nur ein ganzheitlicher Ansatz bringt Aussicht auf weitere Verbesserungen bis 2030.
Die Verkehrssicherheitsexperten und auch die Behörden müssen klare Positionen beziehen und handeln, um bis 2030 eine Halbierung der Anzahl der Getöteten und Schwerstverletzten im Straßenverkehr zu erreichen. Mögliche Beispiele, wie zeitnah mit schon vorhandenen Ressourcen gehandelt werden kann, hat das Expertengremium der Berliner Erklärung formuliert. Bei einer Einteilung in die drei Kategorien Mensch, Fahrzeug und Verkehrsumfeld stellen sich folgende Maßnahmen dar:

Mensch:

  • Mehr kooperatives Verhalten
  • Einhaltung der Verkehrsregeln
  • Weiterentwicklung der Verkehrserziehung

Fahrzeug:

  • Erkennen von menschlichen Fehlern, ggf. mit Korrektur durch Eingriffe
  • Vorausschauendes, regelkonformes Fahren durch Automatisierung
  • Neue präventive Systeme zum Schutz der Insassen und der ungeschützten Verkehrsteilnehmer

Verkehrsumfeld:

  • Angepasste, situationsabhängige Verkehrsregeln
  • Fehlerverzeihende Infrastruktur
  • Verkehrstrennung

Eine Potenzialabschätzung der Experten der Berliner Erklärung hat zudem ergeben, dass mit den Maßnahmen „Gurttragerate erhöhen“, „Marktdurchdringung von neuer Sicherheitstechnik im PKW erhöhen“ und „Verminderung der Ablenkung aller Verkehrsteilnehmer“ bis 2025 die Unfalltotenzahlen um bis zu 25 Prozent reduziert werden könnten.
Besonders den beiden Themen Fahrassistenzsysteme und Automatisierung wird eine hohe Bedeutung zukommen und sie haben deswegen einen besonderen Stellenwert bei der Berliner Erklärung des VDI.

Zusammenfassung
Es lässt sich zusammenfassen, dass uns die aktuelle Situation, trotz des historischen Tiefstwerts bei den Verkehrstotenzahlen in Deutschland, nicht zufriedenstellen kann. Es gibt nicht mehr den einen Stellhebel, der zu einer erheblichen Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit beiträgt – wie damals der Sicherheitsgurt. Nur durch einen ganzheitlichen Ansatz mit Maßnahmen bei allen drei relevanten Stellhebeln - Mensch, Fahrzeug, Verkehrsumfeld/Infrastruktur - lässt sich das Risiko für schwere Verkehrsunfälle signifikant reduzieren. In den nächsten Jahren werden die drängendsten Fragen dazu beantwortet werden müssen. Nicht alle Maßnahmen werden auf direkte Akzeptanz stoßen. Hier gilt es frühzeitig eine gesellschaftliche Diskussion anzustoßen.

Auf Seite des Gesetzgebers (BMVI) gibt es Anstrengungen für eine neue Verkehrssicherheitsstrategie 2020 bis 2030. Die Experten der Berliner Erklärung werden sich mit konkreten Vorschlägen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit einbringen.

Im Rahmen der Berliner Erklärung des VDI wird im 1. Quartal 2020 ein Sicherheitsworkshop durchgeführt, um Maßnahmen zu definieren, die das realistische Potenzial einer Reduktion der Verkehrsopferzahl um 50 Prozent bis 2030 haben.

Klares Ziel wird dabei aber sein, die Mobilitätsanforderungen an die einzelnen Verkehrsarten und -träger nicht zu beeinträchtigen.

Autor
Prof. Dr.-Ing. Rodolfo Schöneburg, Director Development Safety, Durability, Corrosion Protection, Mercedes-Benz AG, Sindelfingen.

Er ist zudem Vorsitzender des VDI-Fachbeirats Sicherheit, Methoden und Prozesse. Darüber hinaus ist er Experte bei der Berliner-Erklärung des VDI zur Verkehrssicherheit 2019. Das Expertenmedium entstand 2011 aus dem Umfeld der aktiven Experten rund um die Tagung „Fahrzeugsicherheit“ des VDI Wissensforums. Das Gremium erarbeitet kontinuiertlich mit wechselnden Schwerpunktthemen Lösungsvorschläge zur Erreichung der „Vision Zero“. Ziel der „Vision Zero“ ist, dass es ab 2050 soll es nahezu keine Verkehrstoten mehr geben soll. Prof. Dr. Schöneburg ist einer der beiden Leiter der Tagung „Fahrzeugsicherheit“ des VDI Wissensforums.