Das Denken in Funktionen

1. Wozu dienen Funktionen?

Die Kunden beschaffen in der Regel ihre Produkte, Prozesse und Dienstleistungen unter sehr funktionalen Gesichtspunkten. Sie möchten im Grunde genommen nicht das Produkt als solches haben, sondern dessen Funktionen. Die Kunden sind bereit, für die Funktionen zu bezahlen, die ihren Bedürfnissen am ehesten entsprechen. Sie kaufen also in erster Linie Funktionen (Wirkung, Zweck, …) und nicht eine Anzahl von Bauteilen (Platinen, Schalter, Lötstellen, ...). Funktionen beschreiben in der Wertanalyse lösungsneutral die Wirkung eines Systems, nicht dessen Komponenten, Baugruppen oder verbundene Prozesse und Verfahren.

Eine Funktion ist jede einzelne Wirkung eines betrachteten Objekts. Die Funktion beschreibt sowohl das Wirken als Vorgang (z. B. Licht einschalten) als auch das Ergebnis dieses Wirkens (z. B. Raum beleuchten), nicht jedoch den Status oder die Möglichkeit der Wirkung (z. B. Beleuchtung bereitstellen).

An dem Beispiel eines Fernsehers wird deutlich, dass die Kundschaft keine Bauteile, sondern Funktionen einkauft und dafür bereit ist, einen für sie akzeptablen Preis zu bezahlen. Sie wünschen sich ein bestimmtes Design und bestimmte Abmaße, damit das Gerät in die Bücherwand passt, sowie eine Fernbedienung, eine bestimmte Anzahl von Programmen usw. Damit interessieren sie sich primär für den Preis der geforderten Funktionen und nicht für die Kosten der Bauteile, sonst müssten sie zur Bauteilkontrolle den Fernseher öffnen und hineinschauen, was alles darin verbaut ist, und die Kosten dafür abschätzen. Das dürfte recht schwierig werden und zudem hätten die Kunden mit dem Öffnen des Fernsehers die Garantie verloren.

2. Die Funktionenanalyse

Die Funktionenanalyse gehört zu den wichtigsten Modulen der Wertanalyse/ Value Management und ist Bestandteil jedes Wertanalyseprojektes. Sie wird jedoch oft in ihrer Bedeutung unterschätzt und kommt daher vielfach nur eingeschränkt oder gar nicht zur Anwendung. Ein Projekt ohne Funktionenanalyse ist jedoch kein Wertanalyseprojekt.

Folgender Nutzen wird durch die Funktionenanalyse geschaffen:

  • Im Team ist ein gleicher Wissensstand geschaffen,
  • die Kommunikation im Team ist verbessert,
  • der Lernprozess ist unterstützt,
  • das gemeinsame Verständnis für das Objekt ist gefördert,
  • die Beschreibung des zu untersuchenden Objekts geschieht lösungsneutral,
  • das Suchfeld ist erweitert,
  • die Wichtigkeit der Funktionen ist erkannt,
  • die Voraussetzung für die Bestimmung der Funktionen-Kosten.

Der Weg zur angestrebten Wertgestaltung oder -verbesserung liegt in der Betrachtung der Wirkungen des zu gestaltenden oder zu verbessernden Objekts. Diese werden hier Funktionen genannt. Ein Objekt erfüllt fast immer mehrere Funktionen. Die Funktionen werden im Rahmen einer Wertanalyse durch ein Substantiv und ein Verb im Infinitiv beschrieben. Die identifizierten Funktionen werden nach Funktionenart und Funktionen- klasse differenziert und in ihrer Abhängigkeit zueinander in einem Funktionenbaum oder einem FAST-Diagramm (Funktionen-Analyse-System-Technik) gegliedert.

Bild 1: Der Umweg über die Funktionenanalyse

2.1 Vom Ist zum Soll  

Ziel dieser Vorgehensweise ist, dass die Wirkungen des Objekts entkoppelt von möglichen Lösungen dargestellt werden. Die Funktionenanalyse strukturiert, abstrahiert und eröffnet dadurch größere Suchfelder für neue Lösungen. 

Die lösungsneutrale Beschreibung des Objekts ist die Basis für die gemeinsame Findung von innovativen und kundenorientierten Lösungen!

Wie bereits erwähnt sorgt sie für ein gemeinsames Verständnis, motiviert, fokussiert und erleichtert die Kommunikation. Hat das Team einmal die Beziehung zwischen den Funktionen erarbeitet, kann kreativ an der Lösungssuche gearbeitet oder es können, auf Basis von Funktionen, auch alternative Konzepte verglichen werden (VDI-Richtlinie 2803).

Anstelle der Suche von Lösungen auf Basis des realen Systems (x zu X1) werden in der Funktionenanalyse die Wirkungen des Systems analysiert. Zuerst werden sie im Ist-Zustand analysiert und danach den jeweiligen Kundenanforderungen entsprechend in den Soll-Zustand überführt.  Dies ist eine der Voraussetzungen für die kreative Ideensuche.

Bild 2: Der Abstraktionsgrad

2.2 Die Abstraktion der Funktionen

Die Formulierung der Funktionen darf zum Zweck der Findung von alternativen Ideen keinenfalls im realen Bereich bleiben, sondern muss an der Grenze zwischen dem ikonischen und dem symbolischen Bereich liegen.

Bild 3: Das Suchfeld ohne Funktionen

2.3 Die Bedeutung der Funktionen für die Lösungssuche

Die Tiefe einer Funktionenstruktur (z. B. die Anzahl der Detaillierungsstufen) und der Abstraktionsgrad der Funktionenformulierung hängen eng miteinander zusammen. Auf der Ebene der Gesamtfunktionen wird eher nach neuen Lösungen wie z. B. neuen Technologien, ungewöhnlichen Wirkprinzipien und dergleichen gesucht als auf einer niedrigen Teilfunktionenstufe. Dies führt dazu, dass beim Übergang von Ist- auf Soll-Funktionenstrukturen die Funktionen der niedrigeren Stufen oft weniger für Suchfelder herangezogen werden. Die Formulierung der Funktionen auch auf den niedrigen Stufen darf jedoch nicht vernachlässigt werden. Die richtige Funktionenformulierung fördert insbesondere, auch Lösungen jenseits der im Team allgemein bekannten Lösungsprinzipien zu suchen.

2.4 Das Suchfeld für neue Lösungen ohne Funktionenanalyse

Beispiel: Die Ist-Lösung beruht auf dem elektrohydraulischen Prinzip

Wird die Funktion zu sehr im realen oder noch im ikonischen Bereich formuliert, werden die daraus folgenden Ideen auch nur aus diesen wahrscheinlich bekannten Prinzipien kommen.

Bild 4: Das Suchfeld mit Funktionen

2.5 Das Suchfeld für neue Lösungen mit Einsatz der Funktionen

Ist die Funktion aber eher im symbolischen Bereich formuliert, wird das Team auch nach Lösungen auf anderen Lösungswegen suchen (siehe Bild 4).

2.6 Die Beschreibung der Funktionen

Funktionen beschreiben Wirkungen und keine Lösungen. Die Funktionen werden beschrieben durch ein Substantiv und ein Verb. Die Formulierung soll möglichst knapp, lösungsneutral und zielführend erfolgen.

Beispiel:

Bild 5: Der generische Funktionenbaum

2.7 Funktionenanalyse im generischen Funktionenbau

Der Funktionenbaum zeigt die Verknüpfung der einzelnen Funktionen. Zur Erstellung dieser Verknüpfungen gibt es eine Hilfestellung in der Form von zwei Fragen. Die Frage von links nach rechts ist „WIE“, die von rechts nach links ist „WOZU“. Die gegenseitige Abfrage nach der jeweils folgenden Funktion ermöglicht die Prüfung des logischen Pfades.

Bild 6: Der Funktionenbaum „IST“ am Beispiel Swatch

2.8 Der Funktionenbaum „IST“ am Beispiel Swatch

Bild 7: Der Funktionenbaum „SOLL“ am Beispiel Swatch

2.9 Die Funktionenanalyse „SOLL“ am Beispiel Swatch

Bild 8: Die Funktionenkosten „IST“ am Beispiel Swatch

Ergänzt wurden die Hauptfunktionen durch die Funktion „Datum anzeigen“.

Diese neue Funktion „Datum anzeigen“ entstand einerseits aus der Analyse der Wettbewerber und andererseits aus der Analyse der jeweiligen Kundenanforderungen. Ansonsten hat sich an den unabdingbaren Funktionen   nichts verändert, außer dass nebst der Zielsetzung, die Herstellkosten um 20 Prozent zu senken, die zusätzliche Funktion mitzuerfüllen ist.

Der kreative Spielraum besteht jetzt bei dem „Wie“, also wie diese Hauptfunktionen im neuen Zustand erfüllt werden.

3. Die Funktionenkostenanalyse

Die Funktionen eines Objekts können auf unterschiedliche Weise und damit mit unterschiedlichem Aufwand realisiert werden. Zwei Produkte können mit völlig unterschiedlichen Bauteilen ausgeführt werden und dennoch die gleiche Funktion haben.

Zum Beispiel kann die Funktion „Drehmoment erzeugen“ eines Motors mit einem Verbrennungsmotor oder einem Elektromotor realisiert werden. Auf Ebene einzelner Bauteile ist ein Kostenvergleich schwierig, da völlig unter-schiedliche Bauteile für die beiden Motorenarten vorliegen. Der Vergleich lässt sich jedoch auf Ebene der Funktionen erstellen. Wenn die Funktionen mit einer Funktionenkostenanalyse ergänzt werden, sind auch die Unterschiede bezüglich der Kosten einer Funktion darstellbar. Bei mehreren Funktionen eines Produkts lassen sich auf diese Weise die kostentreibenden Funktionen ermitteln. Mit der Funktionenkostenanalyse wird also eine andere Sichtweise eingenommen, die Bauteile, Kosten und Funktionen miteinander verbindet und dadurch für die Gestaltung und Optimierung von Produkten und Prozessen hilfreiche und zuweilen unerwartete Erkenntnisse bringt.

(Quelle: Value Management – Wertinduzierung und Wertanalyse, VDI-Statusreport, VDI-Gesellschaft Produkt und Prozessgestaltung, 05-2022)

3.1 Die Funktionenkosten „IST“ am Beispiel Swatch

In der Wertanalyse werden zur Bestimmung von Suchfeldern für Verbesserungsansätze die Kosten aller Komponenten anteilig denjenigen Funktionen zugeordnet, zu deren Erfüllung die Komponenten beitragen. Der Anteil entspricht dabei näherungsweise den Kosten, die in der Komponente enthalten sind, um die Wirkung der Funktion zu erzielen.

4. Zusammenfassung

Die Funktionenanalyse gehört zu den wichtigsten Modulen der Wertanalyse/ Value Management und ist Bestandteil jedes Wertanalyseprojektes. Sie wird jedoch oft in ihrer Bedeutung unterschätzt und kommt daher vielfach nur eingeschränkt oder gar nicht zur Anwendung. Ein Projekt ohne Funktionenanalyse ist kein Wertanalyseprojekt.

Die funktionale Denkweise ist:

„Ihr Gutschein für innovative und kundenorientierte Lösungen“

Zur Person

Ing. Jürg M. Ammann ist Unternehmer, Mentor, Counselor und Projektcoach. Im Jahr 1981 gründete er ammann projekt management in Pratteln (CH) und in Karlsruhe. 1979 erhielt er einen der ersten Lehraufträge für die Wertanalyse vom VDI in Düsseldorf. Heute ist er Professional in Value Management (PVM) und Trainer in Value Management (TVM), zertifiziert für die Lehrgangsmodule VM1-3. Nach seiner Entwicklungstätigkeit in der Fördertechnik war er fünf Jahre als Schweizer Geschäftsführer für eine deutsche Unternehmensberatung tätig. Seit 40 Jahren begleitet er erfolgreich Projektteams in Unternehmen der unterschiedlichsten Branchen und Größen und hat schon mehr als 300 Projektvorhaben erfolgreich zum Ziel geführt. Er engagiert sich seit vielen Jahren aktiv im Fachbeirat der VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung.