Das Projekt rethink*rotor: Ausgediente Windrotorblätter bieten neue Potentiale für die Bauwirtschaft

rethink*rotor: Was ist das und wie ist die Idee für dieses Projekt entstanden? Ein spannender Ansatz, bei dem ausrangierte Rotorblätter umfunktioniert werden und deren Potential der Bauwirtschaft zugutekommt. Darüber sprachen wir mit Projektleiter Marcin Orawiec im Interview.

© rethink*rotor - Visualisierung Bühnen

Seit wann gibt es rethink*rotor und wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Marcin Orawiec: Die Idee, die Potentiale ausgedienter Windrotorblätter in der Bauwirtschaft zu nutzen, entstand im Frühjahr 2022.  Im Rahmen eines “Urban Mining“ Seminars, das am Fachbereich Architektur der Hochschule Darmstadt in einem fachbereichsübergreifenden Team aus Lehrenden und Studierenden durchgeführt wurde, analysierten wir die Möglichkeiten, ausrangierte Rotorblätter umzufunktionieren. Im selben Jahr haben sich der Fachbereich Architektur der Hochschule Darmstadt und die OX2architekten GmbH in einer Projektpartnerschaft zusammengeschlossen und die Innovationsplattform “rethink*rotor” gegründet. Seitdem arbeiten wir gemeinsam an konstruktiven Lösungen, welche die Beständigkeit und außerordentliche Leistungsfähigkeit eines kompletten Rotorenblattes bei minimalen Konditionierungen von Form und Material ausschöpfen.

Gleich drei Auszeichnung innerhalb von sechs Monaten – BDAcalls- WIRTSCHAFTSIDEEN FÜR EIN POSTWACHSTUM IM BAUEN, German Innovation Award 2023 - Winner Excellence in Business to Business “Building & Elements” und "creative.projects 2023“ des Ministeriums für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie NRW, Düsseldorf – konnte das interdisziplinäre rethink*rotor-Team für seine Ideen für die Nachnutzung der riesigen Schaufeln in der Bauwirtschaft erringen.

© rethink*rotor – Visualisierung Stadion

© rethink*rotor – Visualisierung Lärmschutzwand

Was macht für Sie als Architekt*innen ein Rotorblatt zum spannenden Bauelement?

Marcin Orawiec: Das ästhetische Potenzial der Blätter, ihre Langlebigkeit, Korrosionsbeständigkeit, Leichtigkeit und Stabilität sind ein Mehrwert für die Bauwirtschaft! Mit dem Projekt rethink*rotor wollen wir den Ausweg aus dem Recycling-Dilemma unterstützen. Das Belassen der riesigen Blätter in der Anthroposphäre ermöglicht nicht nur eine signifikante Kohlendioxid-Reduktion, sondern ist durch die Weiterverwendung der kompletten Rotorblätter auch nachhaltiger als ihr stoffliches Recycling. Die Graue Energie in jedem Windrotorblatt und leider auch das Wissen, die Herstellungsleistung und das geniale Design sind endgültig verloren, wenn die Flügel nicht - auch in einer anderen Funktion – weiterverwendet werden. Im sektorenübergreifenden Reuse der Flügel verknüpft rethink*rotor kreative Energie, neue Technologien und Nachhaltigkeitsziele miteinander. Die komplexen Geometrien der Rotorblätter werden zwar durch die Formschönheit der Teile unterstützt, erfordern jedoch, um den Einsatz in den neuen Anwendungen zu garantieren, eine ganze Reihe kreativer und konstruktiver Ideen. Bei OX2architekten agieren wir transdisziplinär und auch die h_da vertritt einen integrativen Forschungsansatz – das sind die besten Voraussetzungen, um eigentlich branchenfremde "second life Anwendungen“ in die Bauwirtschaft zu integrieren. rethink*rotor liefert gestalterisch hochwertige, dennoch einfache Lösungen für die komplexe Aufgabe, den ausgedienten Rotorblättern im Bausektor ein “zweites Leben” zu ermöglichen. 

Wie viele Projekte haben Sie bereits umgesetzt?

Marcin Orawiec: Es gibt noch keine realisierten Projekte. Das ist der Komplexität der Crossinnovation geschuldet, die auch Disziplinen wie Recht und Logistik einbeziehen muss. Zum Beispiel ist der Einsatz der umfunktionierten Rotorblätter von der Nähe zur Windenergieanlage, die rückgebaut werden soll, abhängig. Die Innovationsplattform rethink*rotor bereitet mit Unterstützung durch Kooperationspartner, Projekte in Offshore- und Onshore-Bereichen vor. Dabei soll, um aufwändige Transportwege zu minimieren, die Zweitverwendung in der Nähe des ursprünglichen Standortes der Windkraftanlage eingesetzt werden. Mitgedacht werden hierfür die Fügungen für die Komponenten, die mit Low-Tech Methoden zu realisieren sind.

Gab es bei einem von diesen Projekten besondere Herausforderungen, denen Sie sich stellen mussten?

Marcin Orawiec: Die aktuellen Herausforderungen sind:

  • Das REUSE-Potenzial der Rotorblätter ist noch lange nicht ausgeschöpft, unser  Wissen auf dem Gebiet muss sich erweitern.
  • REHINK*ROTOR hat bereits eine gewisse internationale Wahrnehmung, sollte aber auf nationaler und regionaler Ebene sichtbar werden, um im Sinne der Nachhaltigkeit Kooperationspartner in Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft "vor Ort" zu gewinnen.
  • Um Anreize bei den Unternehmen, die in der Windenergiebranche tätig sind, zu schaffen, dass diese bereits bei der Produktion und der wirtschaftlichen Nutzung der Windkraftanlagen an das „End of Live“ der Blätter zu denken, benötigt es einen gesellschaftlichen und politischen Konsens, der genau das einfordert. Eine sinnvolle und nachhaltige Nachnutzung müsste unterstützt und gefördert werden, wohingegen CO₂ und energieintensive Entsorgung wirtschaftlich unattraktiv sein und restriktiv behandelt werden sollte. Um das zu erreichen, ist noch sehr viel Aufklärung und Überzeugungsarbeit zu leisten.

Wie ordnen Sie rethink*rotor im Rahmen einer branchenübergreifenden Kreislaufwirtschaft ein?

Marcin Orawiec: Deutschland ist eines der führenden Industrieländer der Erde und daher auch Großverbraucher mineralischer Rohstoffe. Fast 90 Prozent aller in Deutschland verwendeten mineralischen Rohstoffe werden für die Produktion von Baustoffen eingesetzt, so dass dem ressourcenschonenden Bauen eine besonders große Bedeutung zukommt.

Gleichzeitig ist die Bauwirtschaft mit rund 229,4 Mio. Tonnen allein im Jahr 2020, Hauptverursacher (55,4 Prozent) des Brutto-Abfallaufkommens in Deutschland.

Während also die Baubranche einen enormen Materialbedarf hat, muss die Windenergiebranche mit ihrem wachsenden Müllproblem umgehen.

Allein in Deutschland fallen jedes Jahr 7500 ausgemusterte Rotorblätter an. Ihre Kunststoffmatrix kann nicht verformt werden. Der Materialcocktail der Flügel ist nur teilweise durch aufwändige, umweltschädliche Verfahren recyclefähig. Das geschieht nicht rückstandsfrei, weder CO₂-neutral, noch nachhaltig. Manche werden deshalb geschreddert und darin enthaltene Metallreste abgeschieden. Die übrigen Abfälle werden als Brennstoff oder Ersatzmittel in der Zementindustrie eingesetzt oder in kleinen Mengen in Müllverbrennungsanlagen verbrannt. Das ist Downcycling!

Eine enorme CO2-Einsparung bzw. CO2-Bindung lässt sich erzielen, wenn diese EoL-Rotorblätter in anderen Anwendungen weiterhin genutzt werden könnten (Repurpose). Angesichts der großen Materialvolumina kommen dafür vor allem Anwendungen im Bauwesen in Frage. Das Umfunktionieren der Rotorblätter zu konstruktiven Bauelementen senkt den primären Rohstoffbedarf der Bauwirtschaft, vermeidet Abfall und treibt Optimierungsprozesse in der Herstellung von Gebäuden und Infrastrukturbauten voran.

Über den Autor

Prof. Marcin Orawiec ist als Architekt tätig und beschäftigt sich seit 1989 auch in der Lehre und Forschung mit der Gestaltung hochwertiger Lösungen für komplexe Aufgaben. Mit seiner Partnerin gegründete er im Jahr 1996 OX2architekten.
Seitdem überzeugt das Team erfolgreich bei internationalen Wettbewerben durch progressive Konzepte zur urbanen Transformation und in der Architektur. Hier sieht er die Verpflichtung, die ganze Kreativität, Leistungsbereitschaft und Leidenschaft auf Orte und Gebäude zu konzentrieren, die Eigentümern und Nutzern optimal dienen und zugleich einen positiven Beitrag zur Gestaltung des für alle unausweichlich erlebbaren öffentlichen Raums darstellen. In der Lehre und Forschung an der h_da in Darmstadt widmet er sich dem konstruktiven Entwerfen und Themen, wie dem zirkulärem Bauen, dem Urban Mining und der Integration nachwachsender Baustoffe im Bauwesen.

Unser Veranstaltungstipp:

Lernen Sie unseren
Zertifikatslehrgäng "Fachingenieur Nachhaltiges Bauen und Sanieren VDI" kennen und qualifizieren Sie sich weiter!