Mit der Energiesystemmodellierung moderne Energiesysteme optimal dimensionieren

1. Transformation urbaner Energiesysteme

Städte stehen im Zentrum der globalen Energiewende. Dort werden einerseits viele Treibhausgasemissionen freigesetzt, andererseits liegen hier auch große Potenziale, diese Emissionen zu reduzieren. Urbane Energiesysteme bestehen aus einer Vielzahl von Anlagen und Netzwerken zur Energieerzeugung, -verteilung und -nutzung. Sie decken die Bedarfe der Bewohner*innen und Unternehmen an Elektrizität, Wärme und Kälte. Die Technologiewahl ist oft von Randbedingungen geprägt, die Jahrzehnte zurückliegen und sich bis heute drastisch geändert haben. Die Stromversorgung wurde von zentralen Kraftwerken dominiert. Die Wärmeversorgung basiert bis heute überwiegend auf Mineralöl und Erdgas.
Die Transformation urbaner Energiesysteme zu mehr Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz braucht die Integration erneuerbarer Energiequellen, unterschiedlicher Arten von Energiespeichern und die Elektrifizierung der Sektoren Wärme und Mobilität (schematisch dargestellt in Abbildung 1). Dadurch existieren heute praktisch unendlich viele technische Kombinationsmöglichkeiten, den Energiebedarf eines Haushalts, Unternehmens oder Quartiers mit verschiedenen Technologien und unterschiedlichen Betriebsweisen zu decken. Traditionelle Planungsmethoden, bei denen Sektoren separat betrachtet und wenige verschiedene Szenarien mit ausgewählten Technologiekombinationen miteinander verglichen werden, kommen hier an ihre Grenzen. Die Energiesystemmodellierung erhöht die Übersichtlichkeit der Variantenbetrachtung und kann nicht weiter optimierbare Technologiekombinationen ermitteln.

Quelle: European Commission, “EU Energy System Integration Strategy”, 2020

Abbildung 1: Wechselwirkungen und neue Komponenten in modernen Energiesystemen.

2. Energiesystemmodellierung als Planungsmethode

Mit Hilfe von Optimierungsalgorithmen werden alle theoretisch möglichen Energieversorgungsszenarien eines zu untersuchenden Energiesystems miteinander verglichen. Die Beziehung unterschiedlicher Energiesystemkomponenten kann graphisch durch einen Energiesystemgraphen dargestellt werden (siehe Abbildung 2).
Als Ergebnis werden die Szenarien identifiziert, die die zuvor definierten Zielwerte zur Energieversorgung des zu untersuchenden Energiesystems minimieren. Diese Zielwerte beinhalten in der Regel finanzielle Kosten und Treibhausgasemissionen. Theoretisch können auch einzelne Kenngrößen aus Lebenszyklusanalysen oder weitere Parameter optimiert werden.
Die multi-kriteriale Optimierung ist ein Ansatz, der es ermöglicht, mehrere Ziele gleichzeitig zu berücksichtigen und zu optimieren. Dabei werden typischerweise zunächst die Kosten optimiert, während die Treibhausgasemissionen als Beschränkung betrachtet werden. In weiteren Durchläufen wird dann schrittweise die erlaubte Menge an Emissionen reduziert, bis keine weiteren Verbesserungen mehr möglich sind (Epsilon-Constraint-Methode). Die Ergebnisse ergeben unterschiedliche semi-optimale Szenarien für das Energiesystem, die sich zu einer sogenannten Pareto-Kurve verbinden lassen, um die Trade-offs zwischen den verschiedenen Zielen zu visualisieren (siehe Abbildung 3).

Quelle: Klemm & Vennemann, Modellierung urbaner Energiesysteme im Projekt R2Q, 2021

Abbildung 2: Graphentheorie und Darstellung eines Quartiers als Energiesystemgraph.

Quelle: www.fh.ms/esym

Abbildung 3: Schematische Darstellung einer Pareto-Kurve.

Die Energiesystemmodellierung bietet verschiedene weitere Vorteile und Stärken bei der Planung und Auslegung von urbanen Energiesystemen. Grundsätzlich kann durch den Modellierungsaspekt die hohe Komplexität eines Energiesystems abgebildet werden. Somit ermöglicht die Energiesystemmodellierung einen ganzheitlichen Planungsansatz, bei dem alle relevanten Faktoren, Stakeholder, Zielgrößen, Technologien und Wechselwirkungen berücksichtigt werden können. Bei niedrigerem personellem Arbeitsaufwand steigt die Qualität der Planung. Anschließende Sensitivitätsanalysen der zugrundeliegenden Annahmen können die Ergebnissicherheit und Aussagekraft der Ergebnisse weiter steigern. Innerhalb der Sensitivitätsanalysen werden die Parameter mit den größten Unsicherheiten variiert und deren Einfluss auf das Gesamtsystem bestimmt. Ein Beispiel dafür sind Prognoseunsicherheiten der zukünftigen Entwicklung von Energiepreisen, die klassischerweise starken Unsicherheiten unterliegen. Die Variation mehrerer Parameter ermöglicht es, planende (erwartete) Trends und Entwicklungen zu berücksichtigen, um fundiert und zukunftssicher die besten Versorgungsoptionen zu identifizieren.
Der Planungshorizont umfasst in der Regel die gesamte Lebensdauer der geplanten Anlagen. Werden die Investitionskosten sowie Wartungskosten auf jährliche Kosten umgerechnet, können auch Anlagen mit sehr verschiedenen Lebenszeiten, wie zum Beispiel Gasheizungen und Wärmenetze, miteinander verglichen werden. Im Anschluss erfolgt die Energiesystemmodellierung für ein individuell festgelegtes Referenzjahr, auf dessen Basis das Energiesystem ausgelegt wird.
Die Verfügbarkeit von Open-Source Tools in der Energiesystemmodellierung bietet einen entscheidenden Vorteil in Bezug auf Transparenz und Flexibilität. Nutzer*innen haben Zugang zu einer Vielzahl von Beispielen und können die Tools an ihre individuellen Bedürfnisse anpassen, was die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch in der Forschungs- und Planungsgemeinschaft fordert. Kleinere Planungsbüros oder Personen, die sich nur gelegentlich mit Fragen der Energiesystemplanung auseinandersetzen, wie zum Beispiel Verantwortliche in kleineren Kommunen, profitieren von fehlenden Lizenzgebühren freier Software.

3. Optimierte Ergebnisse

Die Ergebnisse enthalten sowohl die Auswahl und Dimensionierungen zentraler Technologien und Netze, als auch dezentraler Technologien bis hin zur Generierung von detaillierten Gebäudesteckbriefen.
Durch die multi-kriteriale Optimierung können Szenarien identifiziert werden, die nicht nur Kosten, sondern auch Treibhausgasemissionen minimieren. Die reale Pareto-Kurve (siehe Abbildung 4) einer Wohnsiedlung zeigt, dass keine hohen Mehrkosten erforderlich sind, um einen Großteil der Emissionen einzusparen. Lediglich das Erreichen des Emissionsminimums erfordert einen hohen Bedarf an Investitionen. Außerdem zeigen die Ergebnisse der Energiesystemmodellierung im Vergleich zum Status quo bereits eine deutliche Verbesserung hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Emissionen auf.
Mit Hilfe von Energiemengendiagrammen (siehe Abbildung 5) können anschließend konkrete Technologien zur Strom- und Wärmebereitstellung für jeden Paretopunkt identifiziert werden. Diese Visualisierungen dienen auch der Partizipation, da sie es den beteiligten Parteien ermöglichen, die Auswirkungen verschiedener Entscheidungen zu verstehen und am Planungsprozess teilzunehmen.

4. Ausblick

Die Energiesystemmodellierung hat sich als unverzichtbares Instrument in der Planung und Auslegung urbaner Energiesysteme etabliert. Sie ermöglicht eine ganzheitliche Analyse komplexer Energieinfrastrukturen und die Identifizierung optimaler Lösungen. Die Einarbeitung in die Thematik bietet dadurch den Anfang zur Mitwirkung eines immer wichtiger werdenden Forschungsfeldes. Zukünftig wird sie eine noch größere Rolle spielen, da die Komplexität der Energiesysteme weiter zunimmt und die Anforderungen an Effizienz und Nachhaltigkeit steigen. Daher wird die Mitwirkung in diesem Forschungsfeld immer wichtiger, um zukunftsweisende Lösungen zu entwickeln und umzusetzen.
Ein vertieftes Verständnis der Energiesystemmodellierung sowie anderer relevanter Themen wie Energiemärkte, Wärmeplanung und Technologien kann in der Fortbildung zum/zur „Fachingenieur*in Energietransformation VDI“ erlangt werden. Diese Fortbildung bietet eine umfassende Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten der Energiewende und befähigt die Teilnehmer*innen, aktiv an der Gestaltung der zukünftigen Energieinfrastrukturen mitzuwirken.

Abbildung 4: Pareto-Kurve eines Beispielquartiers. Abkürzungen: KM = Kostenminimum, EM = Emissionsminimum, P = Paretopunkt.

Abbildung 5: Wärmemengendiagramm eines Beispielquartiers. Abkürzungen: KM = Kostenminimum, P = Paretopunkt, ST = Solarthermie, BHKW = Blockheizkraftwerk.

Zu den Autor*innen:

Peter Vennemann, Prof. Dr. lehrt und forscht seit 2013 am Fachbereich Energie Gebäude Umwelt der FH Münster zu Themen der regenerativen Strom- und Wärmeversorgung. Nach seiner Ausbildung zum Heizungsbauer studierte Peter Vennemann Energietechnik an der Universität Duisburg-Essen. Anschließend wurde er an der TU Delft im Forschungsgebiet Strömungsmesstechnik promoviert. Den Strommarkt lernte er bei RWE in Essen kennen, bevor er an die FH Münster berufen wurde.

Jan N. Tockloth, M.Eng. hat sein Studium als Wirtschaftsingenieur an der FH Münster in der Energietechnik vertieft. Parallel dazu hat er mehrere Jahre als Windparkmanager in der Energiewirtschaft gearbeitet. Er promoviert zurzeit zum Einfluss lokaler Energiemärkte auf die urbanen Energiesysteme der Zukunft.

Franziska Koert, B.Eng. absolvierte ihren Bachelor als Wirtschaftsingenieurin mit dem Schwerpunkt Energietechnik an der FH Münster. Nach wertvoller Erfahrung in der Wissenskommunikation ist sie jetzt Teil der Forschungsgruppe für Energiesystemmodellierung und verfolgt parallel einen zweiten Bachelor in Umwelttechnik.

Unser Weiterbildungstipp:

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