VDI 2770 – und was nun?

Digitalisierung kann nur gelingen, wenn alle in dieselbe Richtung gehen: Industrieunternehmen, Anlagen- und Gerätehersteller sowie Zulieferer. Mit der VDI 2770 als Basis, um eine Maschinenlesbarkeit aller relevanten Daten sicherzustellen, ist ein erster Schritt getan. Nun sollten rasch weitere folgen. Wie das gelingen kann, wird der 23. VDI-Kongress AUTOMATION am 28. und 29. Juni in Baden-Baden 2022 ausführlich diskutieren.

Digitaler Schatten im Werk

Schluss mit gedruckten Dokumentationen und vielen Regalmetern an Aktenordnern. Die VDI 2770 Blatt 1 „Betrieb verfahrenstechnischer Anlagen – Mindestanforderungen an digitale Herstellerinformationen für die Prozessindustrie – Grundlagen“ schafft die Basis für eine einheitliche digitale Dokumentation in der Prozessindustrie. Egal ob Betriebsanleitungen, Pläne, Zertifikate, Wartungsinformationen oder mehr: Die Übergabe in einem vereinheitlichten digitalen Format sorgt für mehr Effizienz und Transparenz bei allen Beteiligten. Die Klassifizierung der Dokumente wird mit dem Standard ebenso definiert wie die vorgegebenen Metadaten pro Dokument, die Struktur der Dokumentation sowie die Dateiformate.

Die VDI 2770 sieht zwölf Kategorien vor, die in vier übergeordnete Gruppen zusammengefasst sind. Auf allen Seiten verringert sich damit der Aufwand. „Dieser erste Schritt, um einen digitalen Schatten im Werk zu realisieren, stellt einen wichtigen Meilenstein dar. Um die Möglichkeiten von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz konsequent zu nutzen, sollte die Industrie mit ihren Projekten nun rasch fortschreiten“, unterstreicht Dr.-Ing. Dagmar Dirzus, Vice President AI & Platform Business, KROHNE Innovation GmbH (Duisburg). Im Rahmen der AUTOMATION 2022 wird sie dazu einen Vortrag mit dem Titel „Digitalisierung gelingt nur gemeinsam“ halten.

Die Prozessindustrie tritt noch auf die Bremse

Gerätehersteller haben nach ihren Worten bereits viel Vorarbeit geleistet, um die Anforderungen der VDI 2770 zu erfüllen. Wesentlich zurückhaltender und zögerlicher agiere hingegen die Industrie, wenn es um die Implementierung von KI-Anwendungen gehe: „Nicht der Mittelstand bremst die Entwicklung, sondern die langen Laufzeiten der verfahrenstechnischen Anlagen, Sicherheitsbedenken und ein zu langsamer Aufbau benötigter Kompetenzen in der Großindustrie, der bereits vor Jahren hätte initiiert werden müssen. Die Fertigungsindustrie ist da in vielen Bereichen der Digitalisierung bereits weiter.“ Schon heute erfassen Messgeräte viele Daten, die nicht genutzt werden können, da die technische Infrastruktur dafür fehlt. Die drohende Konsequenz: ungeplante und vermeidbare Stillstände, verringerte Effizienz in der Produktion, hohe Kosten durch Ressourcenverschwendung.

„Mit der Zwei-Leiter-Technologie ist nun einmal ein umfassender Einsatz von Künstlicher Intelligenz nicht möglich“, bringt es Dr.-Ing. Dirzus auf den Punkt. Grundsätzlich gebe es drei Lösungsansätze: „Anwender können Daten im Stellgerät selbst verarbeiten, als Embedded KI, das erfordert allerdings eine andere Stromversorgung als heute. Eine zweite Möglichkeit ist die Edge-Verarbeitung der Daten auf Basis von Bluetooth-Verbindungen oder LoRaWAN, dabei bleiben die Daten und die Intelligenz direkt im Feld. Und der dritte, umfassendere, aber auch langsamere Weg erfolgt über die Cloud.“ Einwände bezüglich der Sicherheit seien dabei schnell zu revidieren: „Cloud bedeute nicht geklaut, schließlich lässt sich die Cloudstruktur mit einem Server auch direkt im jeweiligen Unternehmen, auch innerhalb einer geschlossenen Anlage, schaffen. In jedem Fall bildet die KI-Implementierung eine wesentliche Voraussetzung, um nachhaltige Anlagenoptimierungen zu ermöglichen“, erklärt Dagmar Dirzus weiter.

Mehr Wirtschaftlichkeit bedeutet mehr Nachhaltigkeit

Mit Unterstützung von KI lassen sich aus den Daten von Messgeräten diverse Warnsignale herauslesen: Schließt das Stellwerk schnell genug und richtig? Ist die Pumpe intakt oder weist sie Auffälligkeiten auf? Treten ungewöhnliche Vibrationen auf? „Dabei handelt es sich um wertvolle Datenschätze, die vor allem in der Prozessindustrie bisher nicht gehoben werden“, so die Referentin der AUTOMATION weiter. Selbst bei großen Investitionen in neue Anlagen und Standorte, wie das Greenfield-Beispiel in Shenyang (China) zeigt, kommen noch klassisch Zwei-Leiter-Technologien zum Einsatz. „Durch diese Zurückhaltung in der Industrie werden viele Chancen verpasst.“

Gemeinsam die Chancen nutzen

Dennoch ist Dagmar Dirzus guter Dinge, dass schrittweise ein Umdenken einsetzt – dabei wiederum bilde die VDI 2770 einen wichtigen Schritt. Wenn Anlagendaten nicht ausgelesen und analysiert werden, verschenken Unternehmen viel Wirtschaftlichkeit – in Zeiten, da Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit zu einer globalen, gesellschaftlichen Notwendigkeit geworden sind, kaum mehr vorstellbar. „Wie wäre es beispielsweise mit einer Green-Pharma-Fertigung, die unter anderem dank KI besonders nachhaltig ist? Der Druck in diese Richtung vonseiten der Banken, aber auch von Märkten und Kunden, dürfte in den kommenden Jahren weiter zunehmen“, ist sich Dirzus sicher. Jetzt sei daher der richtige Zeitpunkt, um die Chancen der Digitalisierung gemeinsam zu nutzen.