Autonomes Fahren: Die Komplexität beherrschbar machen

Wie weit ist noch der Weg zu autonomen Fahrzeugen? Welche Sensoren stehen besonders im Fokus und welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz? Wie lassen sich Systeme entwickeln, zuverlässig simulieren und sicher validieren? Mit vielen aktuellen Themen der automobilen Entwicklung wird sich der 10. Internationale VDI-Kongress ELIV MarketPlace befassen. Einen Ausblick gibt Dipl.-Ing. Martin Schleicher, Mitglied im Programmbeirat der Veranstaltung und Head of Software Strategy, Continental AG, Erlangen.

Herr Schleicher, wie schätzen Sie die Entwicklungsschritte der vergangenen Jahre beim autonomen Fahren ein? 

Martin Schleicher: Insgesamt zeigt sich, dass die teilweise sehr hochgesteckten Erwartungen an die Einführung von autonomen Funktionen mit Level 3 bis 5 etwas zurückgeschraubt werden. Aktuell führen viele Fahrzeughersteller automatisierte Fahrfunktionen schrittweise ein, ADAS-Systeme (bis Level 2) werden sukzessive um Funktionen des Level 3 erweitert wie zum Beispiel der Autobahn-Pilot oder das automatisierte Parken.

Das Testen und die Validierung von automatisiertem Fahren sind aufwendig, da die reale Umwelt sehr komplex ist und damit viele Sonderfälle behandelt werden müssen. Auch wenn diese selten auftreten, müssen die Systeme funktional sicher sein. Und nicht zuletzt ist es notwendig, Behörden und Stellen, die für Freigaben zuständig sind, mit ins Boot zu holen.

Was sind aktuell und für die kommenden Jahre die wesentlichen Herausforderungen in technischer, aber auch in regulatorischer Hinsicht?

Schleicher: Eine zentrale technische Frage bleibt die Bereitstellung von hoher Rechenleistung im Fahrzeug bei gleichzeitig geringem Stromverbrauch. Autonome Systeme ab Level 3 und mehr erfordern sogenannte „Fail-operational“-Systeme und nicht mehr nur fail-safe gemäß ISO26262. Das heißt, auch bei einem Ausfall von Sensorik oder Aktuatorik muss ein Fahrzeug noch in der Lage sein, eine sichere Position zu erreichen. Das führt wiederum zu einer Erhöhung der Komplexität der Systeme.

Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen sind wichtige Technologien, um autonomes Fahren erfolgreich umzusetzen. Jedoch gilt es, KI richtig einzusetzen. Dafür ist ein angemessenes Training der KI-Systeme essenziell; das benötigt wiederum entsprechend gute und umfangreiche Trainingsdaten. Auch die Entwicklung optimierter Halbleiterbausteine für KI und die Frage „Wie kann KI funktional sicher werden?“ beschäftigen die Industrie.

Ein weiteres wichtiges Element sind passende Test- und Freigabekonzepte. Es ist zu aufwendig, bei jeder Software-Änderung Millionen von Kilometern in realen Tests zu fahren. Zusätzlich braucht es Konzepte, wie nach einzelnen Software-Änderungen von Fahrzeugen im Feld zum Beispiel über Over-the-Air (OTA) die Systeme homologiert werden. Im Laufe der Zeit kann sich die Funktionalität signifikant ändern. Die erfolgreiche Einführung des autonomen Fahrens ist mehr als die Entwicklung von einzelnen Technologien, sondern bedarf eines kooperativen Zusammenwirkens von Automobilherstellern, Zulieferern, Technologiefirmen und Behörden.

Was ist bei Sensoren und der Elektronik noch an Optimierungen und Weiterentwicklungen notwendig? 

Schleicher: Die Erhöhung der Auflösung und die Genauigkeit der verschiedenen Sensortechnologien (Kamera, Radar, Lidar) sind und bleiben wichtig. Gleichzeitig müssen die Sensoren kostengünstig und damit volumentauglich werden, was insbesondere für Lidar noch nicht erreicht ist. Hinzu kommt die Frage, wie viele unterschiedliche Sensortechnologien für Level 3 und mehr benötigt werden. Aus Safety-Gründen sollten mindestens zwei komplementäre Sensortechnologien eingesetzt werden, manche Unternehmen gehen von drei Technologien (sprich Kamera, Radar und Lidar) aus. 

Welche Sensortechnologien dürften nochmals an Bedeutung gewinnen?

Schleicher: Neben der Erhöhung der Auflösungen der Sensoren möchte ich auf die hochgenaue Karte (HD-Map) als zusätzliche Datenquelle für das automatisierte Fahren verweisen. HD-Karten stellen Informationen bereit, die mit anderen Sensoren schwer oder gar nicht ermittelt werden können. Diese Daten müssen jedoch auch aktuell und damit verlässlich sein. Im Programm des Kongresses ELIV MarketPlace haben wir Beiträge zu dem Thema.

Big Data und KI – welche Rolle spielen diese Themen für das automatisierte Fahren von morgen?

Schleicher: Aufgrund der Komplexität der realen Welt sind Daten für die Entwicklung und Validierung von automatisiertem Fahren erforderlich. Das gezielte Aufzeichnen und Auswerten von Daten aus Test und Betrieb ist ein wichtiges Element bei der Entwicklung und kontinuierlichen Optimierung der automatisierten Fahrfunktionen. Die Industrie arbeitet an Konzepten. Dies erfolgt unter Einhaltung von Security- und Datenschutzregeln und mit Kenntnis und Einverständnis des Nutzers.

Bei der Objekterkennung wie zum Beispiel der Verkehrszeichenerkennung erzielt KI heute schon bessere Werte als konventionelle regelbasierte Algorithmen. Auch für die Prädiktion (Erkennung der Absicht anderer Verkehrsteilnehmer) erscheint KI vorteilhaft. Zwei noch zu lösende Herausforderungen sind: explainable KI, also zu verstehen, wie ein KI-Netz Entscheidungen trifft, sowie safe KI, sprich: Wie erfüllen neuronale Netze die Anforderungen der ISO26262?

Welche Bedeutung haben Simulationen, um die Technologien voranzubringen?

Schleicher: Ohne den Einsatz von Simulation ist aus meiner Sicht die Entwicklung und Validierung von automatisiertem Fahren nicht wirtschaftlich umsetzbar. Der Nachweis der korrekten Funktion durch das Fahren von Millionen Kilometern ist nicht wirtschaftlich darstellbar. Außerdem sind viele Testszenarien (Wetter, Verkehrsbedingungen) nicht reproduzierbar oder durch das mögliche Risiko von Unfällen nicht praktikabel. Insbesondere durch Nutzung der Cloud sind Simulationen günstiger und schneller als reale Tests. Allerdings handelt es sich nicht um ein Allheilmittel. Simulation erlaubt es, automatisierte Funktionen im Labor zu einer hohen Reife zu bringen, bevor Tests in Fahrzeugen durchgeführt werden. Der Schlüssel liegt also in der Kombination von Simulation und realen Fahrzeugtests.

Wie werden sich die E/E-Architekturen weiterentwickeln?

Schleicher: Zurzeit führen viele Fahrzeughersteller Zentralarchitekturen mit domänenbasierten Hochleistungsrechnern (HPCs) ein. Für zukünftige Generationen denken viele OEMs bereits an die Einführung von zonenbasierten Architekturen. Diese Entwicklungsschritte werden einen großen Einfluss auf die Verteilung von Funktionalität innerhalb von Steuergeräten und HPCs haben.

Auch das „Software-defined Vehicle“ bewegt die Branche aktuell. Was steckt dahinter?

Schleicher: Beim „Software-definierten Fahrzeug“ (Software-defined Vehicle) geht es darum, EE-Systeme so zu gestalten, dass Hardware und Software getrennt entwickelt werden können. Damit wird es möglich, Software-Funktionen in verschiedenen Fahrzeugplattformen und über mehrere Generationen zu nutzen sowie kontinuierlich zu erweitern und zu aktualisieren. Für den Endkunden ist es vorteilhaft, neue Software-Funktionen im Fahrzeug nutzen zu können, gleichzeitig lassen sich so mögliche Angriffspunkte für Cyber-Security-Angriffe schnell beseitigen. Durch die Möglichkeit von Over-the-Air-Updates können Aktualisierungen schnell installiert werden, so wie man es auch vom Smartphone kennt. Software-defined Vehicle ist ein umfangreiches und komplexes Thema, das einer engen Zusammenarbeit zwischen Herstellern, Zulieferern, Software- und Cloudanbietern bedarf.