Statement zur Tagung „Fahrzeugsicherheit“ - Prof. Dr.-Ing. S. Müller

Prof. Dr.-Ing. Steffen Müller
Leiter des Fachgebietes Kraftfahrzeuge, Technische Universität Berlin

Erhöhung der Fahrzeugsicherheit durch besseren Schutz von ungeschützten Verkehrsteilnehmern und automatisches Fahren

Nach großen Erfolgen in der Fahrzeugsicherheit im Zeitraum 1970 bis 2010, in dem die Zahl der jährlich getöteten Verkehrsteilnehmer von über 20.000 auf etwa 3.500 reduziert werden konnte, stagnierte die Anzahl der Verkehrstoten in den letzten 10 Jahren. Dabei nahm der Anteil sogenannter ungeschützter Verkehrsteilnehmer (UVT) – diese Gruppe umfasst Fußgänger, Fahrrad- und Motorradfahrer – an der Gesamtzahl der Getöteten und Verunglückten zu. 2010 betrug die Quote getöteter UVT noch 43 Prozent, 2020 lag sie bei 50 Prozent. Der Anteil verunglückter UVT erhöhte sich sogar noch stärker, 2010 lag er bei 37 Prozent, 2020 bei 47 Prozent. Auf dem Weg zur Fahrzeugsicherheit 2030 sollte die Gruppe der UVT daher besonders im Fokus stehen.

Ein großer Hoffnungsträger im Kampf gegen Verkehrsunfälle ist das automatische Fahren. Während eine Vielzahl von Studien den Nutzen von Fahrerassistenzsystemen, wie beispielsweise die elektronische Fahrstabilisierung (ESP), Geschwindigkeits- und Abstandsregelung (ACC) oder Spurverlassenswarnung (LDW), bereits nachgewiesen haben, ist der Einfluss des automatischen Fahrens auf die Fahrzeugsicherheit aber immer noch schwer zu bewerten. Eine wichtige Frage auf dem Weg zur Fahrzeugsicherheit 2030 ist daher, wie die Weiterentwicklung des automatischen Fahrens zur Erhöhung der Fahrzeugsicherheit beitragen kann.

Fußgänger und Fahrradfahrer müssen im innerstädtischen Verkehr deutlich besser vor Kraftfahrzeugen geschützt werden

2020 verunglückten in Deutschland insgesamt 116.131 Fußgänger und Fahrradfahrer. Hierbei wurden 802 Personen getötet, 529 davon innerorts. Im Vergleich zur Gesamtzahl der Verkehrstoten in Deutschland in 2020 von 2.719 beträgt der Anteil der innerorts getöteten Fußgänger und Fahrradfahrer nahezu 20 Prozent und ist somit auffällig hoch (Abbildung 1). Dabei zeigt Abbildung 2, dass diese Gruppe von Verkehrsteilnehmern nur zu weniger als 10 Prozent Mitschuld an den eigenen tödlichen Unfällen trägt. Mehr als die Hälfte der innerorts getöteten Fußgänger und Fahrradfahrer werden also durch Pkw und Güterkraftfahrzeuge verschuldet.

In den nächsten Jahren sollten daher Maßnahmen und Technologien verstärkt vorangebracht werden, die insbesondere dem Schutz von Fußgängern und Fahrradfahrern vor Kraftfahrzeugen dienen. Hierzu gehört sicherlich eine möglichst schnelle Marktdurchdringung von automatischen Notbrems- und Abbiegeassistenten, aber auch Maßnahmen wie bessere Verkehrswegetrennung, Sicherstellung der Einhaltung von Geschwindigkeitsbeschränkungen bis hin zur Verbesserung des öffentlichen  Personennahverkehrs und Bereitstellung sicherer Fahrradwege zur Reduzierung des individuellen, innerstädtischen PKW-Verkehrs sowie Ausweitung von Tempo-30-Bereichen oder verkehrsberuhigten Zonen.

Motorradfahren auf der Landstraße muss sicherer werden

Mit 38.215 Verunglückten und davon 552 Getöteten sind Motorradfahrer in Deutschland auch 2020 eine immer noch sehr gefährdete Verkehrsteilnehmergruppe. Der Großteil der tödlichen Motorradunfälle ereignet sich auf der Landstraße (418 getötete Motorradfahrer). Dies sind über 15 Prozent aller im Verkehr getöteten Personen (vgl. Abbildung 1). Nach Abbildung 2 sind mit etwa 11 Prozent die überwiegende Anzahl dieser Unfälle selbst-verschuldet, zumeist durch nicht angemessene Fahrweise. Im Jahr 2010 verunglückten 452 Motorradfahrer auf deutschen Landstraßen tödlich – eine ähnlich hohe Anzahl wie 2020. Offensichtlich konnte auch mit einer gerade in den letzten 10 Jahren hohen Anzahl von Kampagnen zur Aufklärung und verschiedenen Angeboten für spezielles Fahrtraining keine deutliche Verbesserung der Fahrsicherheit von Motorradfahrern erreicht werden.

Um gezielt gerade die hohe Anzahl der auf Landstraßen verunglückten Motorradfahrer verringern zu können, sind daher weiterführende Maßnahmennotwendig. Denkbar wären zum Beispiel geeignete Streckenanpassungen, häufigere Geschwindigkeitskontrollen, höhere Strafen für Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Fahrerassistenzsysteme für eine intelligente Leistungsdrosselungen.

Automatisches Fahren hat das Potenzial, zwei Drittel aller tödlichen Verkehrsunfälle zu verhindern, wird aber bis 2030 noch keinen signifikanten Einfluss auf das Unfallgeschehen haben

Zwei Drittel aller tödlichen Verkehrsunfälle in Deutschland wurden 2020 von Pkw oder Güterkraftfahrzeugen verursacht (vgl. Abbildung 2). Ein ganz erheblicher Teil aller tödlichen Unfälle könnte somit theoretisch verhindert werden, wenn die Fahrzeugführung von Pkw und Güterkraftfahrzeuge nicht mehr durch den Menschen erfolgen würde.

Auf der anderen Seite folgt aus einer jährlichen Gesamtfahrzeugleistung aller deutschen Pkw von ca. 650 Milliarden Kilometern und 192.623 durch Fehlverhalten von Pkw-Fahrern verursachte Unfälle mit Personenschaden in 2020, dass Pkw-Fahrer in Deutschland durchschnittlich 2,7 Millionen Kilometer fahren, ohne einen Unfall mit Personenschaden zu verursachen. Bezogen auf die jährliche Fahrleistung würde ein Pkw somit durchschnittlich ca. 195 Jahre fahren, bevor von ihm ein Unfall mit Personenschaden verschuldet werden würde.

Automatisches Fahren, wo im Gegensatz zu Fahrerassistenzsystemen die Längs- und Querführung des Fahrzeuges dauerhaft ohne Überwachung durch den Fahrer beziehungsweise Passagier übernommen wird, muss diese Leistung eines menschlichen Fahrers mindestens erbringen können, um einen positiven Einfluss auf das Unfallgeschehen zu erreichen. Dabei werden sich die Unfallursachen für automatisch fahrende Fahrzeuge verändern. Beispielsweise werden Unfälle durch falschen Abstand und nicht angepasste Geschwindigkeit, die heute etwa 15 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden ausmachen, beim automatisierten Fahren praktisch nicht mehr auftreten, während Unfallursachen durch fehlerhafte Umfeldwahrnehmung eine deutlich größere Rolle als im heutigen Unfallgeschehen spielen werden. Der Gebrauchssicherheit, d.h. der Sicherheit bei bestimmungsgemäßem Gebrauch, fällt damit eine entscheidende Rolle zu, um durch automatisches Fahren eine Verbesserung der Fahrzeugsicherheit zu erreichen. Erst wenn die Gebrauchssicherheit für einen großen Fahrstreckenanteil gewährleistet werden kann und diese Fahrzeuge dann in ausreichender Zahl auf den Markt kommen, wird automatisches Fahren einen positiven Effekt auf die Fahrzeugsicherheit haben können, der über den bereits heute nachweisbaren positiven Einfluss von Fahrerassistenzsystemen hinausgeht. Dies ist nicht vor 2030 zu erwarten.

Für eine signifikante Verringerung der Unfälle mit Personenschaden bis 2030 muss der Schutz von ungeschützten Verkehrsteilnehmern noch mehr im Fokus stehen als in den vergangenen Jahren. Im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen Nutzens, sollte dabei neben technischen Neuerungen in den Fahrzeugen und Infrastrukturmaßnahmen auch über, im Vergleich zu heute, weiterführende regulierende Möglichkeiten nachgedacht werden. Fahrerassistenzsysteme haben bereits heute einen positiven Einfluss auf die Fahrzeugsicherheit. Automatisches Fahren hat durch die eigenständige maschinelle Fahrzeugführung ein deutlich darüber hinaus gehendes Potenzial zur Unfallvermeidung. Die gegenwärtig große Herausforderung bei der Entwicklung des automatischen Fahrens ist die Sicherstellung der Gebrauchssicherheit. Erst wenn diese für große Teile der Fahrstrecke hinreichend gewährleistet werden kann, wird automatisches Fahren zu einer deutlichen Verringerung der Unfallzahlen führen können. Dies ist nicht vor 2030 zu erwarten.

Abbildung 1: Anteile der getöteten Verkehrsteilnehmer in Deutschland nach Verkehrsmittel und Ortslage in 2020 (Quelle: Destatis, eigene Darstellung)

Abbildung 2: Anteile der Hauptverursacher von getöteten Verkehrsteilnehmern in Deutschland nach Verkehrsmittel und Ortslage in 2020 (Quelle: Destatis, eigene Darstellung)


Prof. Dr.-Ing. Steffen Müller
Leiter des Fachgebietes Kraftfahrzeuge, Technische Universität Berlin