Transformation braucht permanente Kommunikation und Verständnis
Eine Faustregel besagt: 70 Prozent aller Transformationsprozesse scheitern, insbesondere an internen Hindernissen. Die Automobilindustrie müsse alles dafür tun, zu den „richtigen“ 30 Prozent zu gehören. Das sagt Julian Fieres, Leiter Transformation, Strategie, Nachhaltigkeit & Digitalisierung – Unternehmensbereich Elektrifizierte Antriebstechnik, ZF Friedrichshafen AG, Friedrichshafen. Im Rahmen des 23. Internationalen VDI-Kongresses Dritev am 5. und 6. Juli 2023 in Baden-Baden wird er eine Keynote zu diesem Thema halten. Im Interview vorab gibt er Einblicke in den Transformationsprozess bei ZF.
Herr Fieres, was macht die Umbrüche in der Automobilindustrie so anspruchsvoll?
Was wir derzeit erleben, ist so etwas wie der perfekte Sturm. Wir sehen uns vier Megatrends zeitgleich gegenüber, die enorme Umwälzungen mit sich bringen: Connected Vehicles, das (teil-) autonome Fahren, Shared Mobility und vor allem die Electrification. Jedes einzelne Thema ist zwar herausfordernd, doch wäre für sich jeweils gut zu meistern. Das Zusammentreffen aller vier Trends hingegen führt zu einem maximalen Transformationsdruck für die gesamte Branche.
Worum sind Transformationsprozesse generell so anspruchsvoll und misslingen so häufig?
Transformation ist ein ganzheitliches und komplexes Konzept. Es umfasst sowohl harte Fakten wie Technologie als auch weiche Faktoren wie die Unternehmenskultur, die interne und externe Kommunikation. Zudem handelt es sich bei Transformation um keine einmalige Aufgabe – stattdessen muss sie zu einer Schlüsselfähigkeit von Unternehmen werden, die auf sich schnell verändernden Märkten wettbewerbsfähig bleiben wollen. Da rund 70 Prozent aller Transformationen scheitern, ist es wichtig, die üblichen Fehler zu vermeiden und einen guten Plan zu haben.
Wie sieht konkret dieser Plan konkret für den ZF-Unternehmensbereich Elektrifizierte Antriebstechnik aus?
Vorab einige Zahlen dazu: Wir sprechen wir über eine Einheit mit 10 Milliarden Euro Umsatz jährlich und 30.000 Mitarbeitern, deren Arbeitsplatzprofile sich überwiegend deutlich verändern werden.
Unsere Strategie bei der Transformation der Antriebstechnologie ist es schon seit geraumer Zeit, eine Brücke zu schlagen vom Verbrenner über den Hybrid zum vollelektrischen Fahrzeug – unter den bekannten Vorzeichen, dass diese Brücke durch gesetzliche Regularien immer kürzer geworden ist. Derzeit industrialisieren wir noch die nächste Generation an Hybridfahrzeugen, mit einer großen Nachfrage auf Kundenseite, und arbeiten parallel an der nächsten Generation der Elektroantriebe. Das bedeutet naturgemäß eine doppelte Herausforderung für die gesamte Organisation.
Gleichzeitig verändern sich auch Kundenstrukturen sowie die Art und Weise der Entwicklung hin zu immer kürzerer Time-to-Market. Die Prozesse der Vergangenheit erfüllen diese Anforderungen nicht mehr, daher braucht es agilere Ansätze, ein bereichsübergreifendes Arbeiten und die intensive Möglichkeit, Mitarbeiter auch intern umzuschulen. Vor diesem Hintergrund haben wir zum 1. Januar 2021 die komplette Organisation der Division umgestellt, indem wir Entwicklung, Werke und Projektleitungen in einen zentralen Pool überführt haben. Damit sehen wir uns in der Lage, Ressourcen flexibler, bedarfsgerechter und letzthin effizienter steuern zu können.
Sie führten bereits aus, dass Transformation insbesondere auch eine Kommunikationsaufgabe ist. Was tun Sie in dieser Hinsicht?
Jede Veränderung beginnt mit Kommunikation. In der Tat ist es eine Herausforderung, 30.000 Menschen mitzunehmen auf diesem Transformationsweg – sie nicht nur zu informieren, sondern auch Verständnis und Überzeugung zu schaffen.
Als eine erste und zentrale Maßnahme haben wir dazu unseren „Transformations Puls Check“ eingeführt. Zunächst alle drei, mittlerweile alle sechs Monate ermitteln wir das Stimmungs- und Meinungsbild. Die komplette Belegschaft, dabei sprechen wir von 30.000 Menschen und 16 Sprachen, beantwortet 36 Fragen, unter anderem zum Verständnis des Transformationsprozesses, zur aktuellen Motivation und zu den internen Angeboten, sich weiter zu qualifizieren.
Auf diese Weise können wir direkt Unterschiede beispielsweise zwischen einzelnen Standorten erkennen und ermitteln, in welchen Bereichen wir vielleicht noch nicht ausreichend erfolgreich kommuniziert haben. Das stellt eine enorme Hilfestellung dar. Über die Zeit haben wir dabei einen signifikant wachsenden Teil derjenigen gemessen, die unsere Transformationsstrategie verstanden haben. Eine weitere Besonderheit: Auch die Ergebnisse der Befragungen kommunizieren wir konsequent öffentlich innerhalb der Belegschaft.
Welche weiteren Kommunikationsmöglichkeiten nutzen Sie?
Im Grunde bedienen wir uns der gesamten Klaviatur für einen permanenten Mitarbeiter-Dialog: von Coachings für Führungskräfte, die ich als sehr wichtig und zielführend erachte, über Townhall-Meetings bis zu schriftlichen Kommunikationswegen.
Was sind aus Ihrer Sicht generelle Hürden bei Transformationsprozessen, die sich durch gutes und richtiges Kommunizieren vermeiden lassen?
Drei Aspekte möchte ich dabei nennen:
An erster Stelle steht für mich der Punkt „Fear of the unknown“. Es ist nur allzu menschlich, dass wir alles, was wir nicht kennen oder einschätzen zu können, eher vermeiden wollen – auch in Bezug beispielsweise auf neue Technologien. Dem lässt sich durch ein gutes Verständnis entgegenwirken.
Ein zweites Thema lautet „Lack of understanding“: Nur weil das Unternehmen eine Information aussendet, bedeutet dies nicht automatisch, dass bereichsübergreifend Verständnis entsteht. Dazu braucht es Klarheit und Kontinuität. Ein Beispiel: Wir haben allen Mitarbeitenden eine Strategiekarte zur Verfügung gestellt, die unsere Transformationsreise visualisiert und die Hintergründe erläutert.
Der dritte Punkt lautet „Loss of control“. Um das Komplexe verständlich zu machen, ist es wichtig, Zwischenschritte intensiv und engmaschig zu kommunizieren, um somit ein Gefühl der Sicherheit zu schaffen.
Wie bewerten Sie die Situation der deutschen und europäischen Automobilindustrie generell angesichts der umfassenden Transformation, in der sie sich befindet?
Die gesamte Industrie muss es schaffen, ein auch in Zukunft technologisch führender Leitmarkt zu sein und Beschäftigung und Wertschöpfung weitgehend zu sichern.
Wir begeben uns mit großen Schritten auf einen Scheideweg zu. Noch haben wir die Chance, den richtigen Weg in die Zukunft einzuschlagen, aber viel Zeit bleibt nicht mehr.
Generell können wir als Branche noch schneller und offensiver werden. Elektromobilität lässt die Markteintrittsbarrieren enorm sinken. Das bedeutet aber auch, dass gleichzeitig die Marktaustrittsbarrieren niedriger werden: Ob E-Motoren, Wechselrichter, Halbleiterprodukte – viele neue Geschäftschancen lassen sich noch erschließen.
Aus meiner Sicht befindet sich die gesamte Automobilindustrie bei dieser Transformation im selben Boot. Ich würde mich daher wünschen, dass ein intensiverer Austausch zu unseren jeweiligen Learnings möglich wäre. Sozusagen weniger Ellenbogen, dafür mehr Kooperation und Partnerschaft im Rahmen des kartellrechtlich Möglichen. Schließlich hat die Branche auch eine gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Verantwortung – daher sollten möglichst viele Unternehmen zu den 30 Prozent gehören, denen die Transformation gelingt.