Dr. Martin Hofstetter ist Leiter E-Mobilität und Alternative Antriebsstränge am Institut für Fahrzeugtechnik (TU Graz). Bei der Dritev spricht er über die agile Entwicklung elektrischer Antriebsstränge durch KI-basierte Design-Optimierung.
Produktentwicklung agil gestalten
Künstliche Intelligenz als Gamechanger für die E-Antriebsentwicklung
Die Anforderungen an elektrische Antriebsstränge sind hoch: Energieeffizienz, Bauraumoptimierung, Nachhaltigkeit, Performance, Kosten, Lebensdauer und vieles mehr – und das alles unter hohem Zeitdruck in der Entwicklung. Doch wie lässt sich diese Vielzahl an Faktoren in einem ausgewogenen technischen Design vereinen, bei gleichzeitiger Einhaltung ehrgeiziger Zeitpläne? Dr. Martin Hofstetter, Leiter E-Mobilität und Alternative Antriebsstränge am Institut für Fahrzeugtechnik, Technische Universität Graz, stellt auf dem VDI-Kongress DRITEV 2025 am 9. und 10. Juli 2025 in Baden-Baden eine Lösung vor: eine KI-basierte Methode zur agilen Designoptimierung elektrischer Antriebsstränge. Im Interview beschreibt er die Besonderheiten und Vorteile der Technologie.
Herr Dr. Hofstetter, welche Impulse zur agilen, KI-basierten Produktentwicklung können die Teilnehmenden der Dritev 2025 von Ihnen erwarten?
Dr. Martin Hofstetter: Heute haben wir es mit einer Produktentwicklung zu tun, die an Komplexität kaum zu überbieten ist. Elektrische Antriebsstränge müssen gleichzeitig energieeffizient, leistungsfähig, kostengünstig, nachhaltig und modular sein – und dabei noch in einen streng definierten Bauraum passen. Diese Vielzahl an Anforderungen führt zu Zielkonflikten, die mit konventionellen Herangehensweisen in eng gesteckten Zeitrahmen nicht mehr zu bewältigen sind.
Unser Ansatz an der TU Graz basiert auf einer KI-gestützten Methode, die es ermöglicht, diese Komplexität systematisch zu durchdringen und optimierte Designentscheidungen in erheblich verkürzter Zeit zu treffen. Die zentrale Botschaft lautet dabei: Mit KI-basierten Entwicklungswerkzeugen können wir Komplexität beherrschbar machen und zu einer neuen Agilität in der Antriebsentwicklung gelangen.
Was kann Ihre Methode, was klassische Entwicklungsprozesse nicht leisten können?
Dr. Martin Hofstetter: Konventionelle Prozesse laufen in der Regel sequentiell ab, sind iterativ und zeitaufwändig. Wenn sich Anforderungen oder Prioritäten im Laufe der Entwicklung ändern – was regelmäßig passiert –, muss der Prozess von vorne beginnen. Mit unserer Methode hingegen lassen sich solche Änderungen in Echtzeit berücksichtigen. Dazu verwenden wir evolutionäre Optimierungsalgorithmen, kombiniert mit selbstlernenden KI-Systemen. Auf diese Weise lassen sich Abertausende von Varianten eines Antriebsstrangs digital durchspielen und hinsichtlich Zielgrößen wie Kosten, Wirkungsgrad oder Nachhaltigkeit analysieren – und das innerhalb von 24 Stunden. So entsteht ein flexibles, datenbasiertes Entscheidungssystem, das auf Knopfdruck neue technische Lösungsräume erschließt. Das erlaubt es auch, Einflussgrößen auf die Entwicklung weit über rein technische Aspekte hinaus zu berücksichtigen. So werden Ziele, beispielsweise aus Engineering, Costing und Sustainability, gemeinsam auf einem „digitalen Tisch“ abgewogen, statt sie im klassischen Entwicklungsprozess langwierig über mehrere Fachabteilungen hinweg sequentiell und iterativ zu bewerten.
Wie genau funktioniert dieser „evolutionäre“ Prozess?
Dr. Martin Hofstetter: Die Idee ist angelehnt an natürliche Selektion: Gute Lösungen werden beibehalten, schlechte verworfen. In der digitalen Welt funktioniert das so, dass der Algorithmus mit einer Vielzahl möglicher Designvarianten beginnt. Diese „entwickeln“ sich über viele virtuelle Generationen weiter – immer entlang der Zielgrößen, die der Nutzer vorgibt. So entstehen am Ende Designvorschläge, die optimal auf das jeweilige Anforderungsprofil zugeschnitten sind. Dieser Prozess ist hochgradig effizient, robust, nachvollziehbar – und in Kombination mit physikalisch fundierten Modellen auch realitätsnah und überprüfbar. Diese evolutionären Algorithmen haben wir für unsere Anforderungen weiterentwickelt und mit selbstlernenden KI-Systemen kombiniert – das reduziert die Berechnungszeit enorm und erlaubt das Lösen von hochkomplexen Problemen, die sonst nicht in praxistauglicher Zeit lösbar wären.
Welche Rolle spielen dabei diese physikalischen Modelle?
Dr. Martin Hofstetter: Eine zentrale. Denn wir arbeiten bewusst nicht mit vereinfachten mathematischen Systemmodellen, sondern mit digitalen Repräsentationen realer Bauteilgeometrien. Das heißt: Jedes Ergebnis, das unser System ausgibt, ist nicht nur theoretisch optimal, sondern entspricht auch einer konkreten, physikalisch umsetzbaren Produktlösung – inklusive Zahnradgeometrie, Lagerauswahl, Inverteranordnung und so weiter. Das erleichtert die Validierung enorm. Unsere Ergebnisse lassen sich direkt in bestehende CAD- und Simulationsprozesse integrieren – etwa zur detaillierten Festigkeitsprüfung oder für die detaillierte Kostenkalkulation. Das heißt: Was sich in der agilen Entwicklung ergibt, ist viel mehr als eine bloße Idee, sondern ein konkret umsetzbarer und überprüfbarer technischer Entwurf.
Das bedeutet auch: Ihre Methode ist nicht nur Theorie, sondern bereits gelebte Praxis?
Dr. Martin Hofstetter: Ganz genau. Die Methode wurde ursprünglich im Rahmen eines Industrieprojekts gemeinsam mit einem Tier-1-Zulieferer entwickelt – das war übrigens auch das Thema meiner Dissertation. Seit mehreren Jahren ist die Technologie dort im realen Entwicklungsprozess etabliert und hat sich vielfach bewährt. Und das ist uns wichtig: Wir betreiben keine Grundlagenforschung im Elfenbeinturm, sondern entwickeln Werkzeuge, die in der industriellen Praxis funktionieren.
Was genau gibt das System am Ende aus – und wie hilft dies bei Entscheidungen?
Dr. Martin Hofstetter: Das zentrale Ergebnis ist eine sogenannte Pareto-Front. Sie zeigt alle technisch realisierbaren Trade-offs zwischen konkurrierenden Zielen – beispielsweise zwischen Kosten und Energieeffizienz oder CO2-Bilanz und Bauraum. Die Entscheidungsträger im Entwicklungsteam können daraus eine Lösung auswählen, die ihren Prioritäten entspricht, gerne auch unter direkter Einbindung des Kunden. Und das mit hoher Transparenz und Rückverfolgbarkeit. Für jeden Punkt auf der Pareto-Front existiert ein vollständiges, bauraumgerechtes Design mit detaillierter technischer Bewertung. So wird die Entscheidung auf Basis der gesamtheitlichen Produktperformance getroffen, anstatt sich mit Detailentscheidungen selbst beschäftigen zu müssen. Außerdem kann durch die strukturierte Vorgangsweise und den Vergleich mit Alternativlösungen selbstbewusst dargelegt werden, dass tatsächlich die beste Lösung im riesigen Lösungsraum gewählt wurde.
Wie reagieren Ingenieure auf diese neue Form der Unterstützung?
Dr. Martin Hofstetter: Zunächst mit Neugier – und zugegebenermaßen bisweilen auch mit etwas Skepsis. Aber wir sehen, dass sich diese Skepsis schnell in Begeisterung verwandelt, wenn die ersten Ergebnisse vorliegen. Denn eines ist klar: Die Methode ersetzt keine Ingenieure – sie entlastet sie. Vor allem in frühen Phasen, etwa bei einer Entwicklungsanfrage mit knappen Timings. Da sind oft nur wenige Wochen Zeit, um ein Konzept zu liefern. Unsere Methode schafft hier belastbare Entscheidungsgrundlagen innerhalb kürzester Zeit. Die Ingenieure können sich dann auf das konzentrieren, was sie selbst am besten können: die Detailausarbeitung mit all ihrer Erfahrung. Insgesamt kommt man so einfach schneller zum Erfolgserlebnis.
Wie agil ist das System bei sich verändernden Anforderungen?
Dr. Martin Hofstetter: Diese Agilität ist ein entscheidender Vorteil. Anforderungen ändern sich häufig – sei es durch neue gesetzliche Vorgaben, durch Marktveränderungen oder interne Entscheidungen. Die Methode erlaubt es, solche Änderungen sofort einzuarbeiten und berechnen zu lassen. Die KI generiert auf Basis der neuen Rahmenbedingungen innerhalb eines Tages neue Lösungsvorschläge. Das ist nicht nur schneller, sondern auch deutlich effizienter als herkömmliche Produktanpassungen. Und das bedeutet in der Konsequenz einen echten Wettbewerbsvorteil für Unternehmen, die frühzeitig auf diese KI-basierte Technologie setzen. Von dieser Agilität profitieren schließlich auch die Kunden und Partner, und ich bin überzeugt, dass dieses Maß an Agilität in Zukunft vom Markt auch eingefordert wird.
Gibt es Grenzen für diesen Ansatz? Was ist noch nicht möglich – oder wo sehen Sie Herausforderungen?
Dr. Martin Hofstetter: Selbstverständlich gibt es Grenzen. Die KI kann lediglich mit dem arbeiten, was wir ihr als Stand der Technik sowie als Datenbasis zur Verfügung stellen. Das heißt, neuartige Technologien für beispielsweise elektrische Maschinen oder Halbleiter müssen zuerst in den digitalen Modellen abgebildet werden. Eine weitere Herausforderung ist die Verankerung in bestehende Unternehmensprozesse – denn innovative Tools stoßen oft auf organisatorische Trägheit. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird an Investitionen in neue Methoden tendenziell eher gespart – aber genau das wäre aus meiner Sicht ein Fehler.
Warum sollte man stattdessen gerade jetzt in Wege der KI-unterstützten Entwicklung investieren?
Dr. Martin Hofstetter: Weil genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um sich technologisch für die Zukunft aufzustellen. Die Marktdynamik ist hoch, der internationale Wettbewerb – etwa aus China – wird immer intensiver. Wer da bestehen will, muss schneller, flexibler und effizienter entwickeln. KI-gestützte Methoden bieten genau diese Möglichkeit: Sie helfen, schneller die zielführenden Entscheidungen zu treffen, Entwicklungszeit zu sparen, Risiken zu minimieren – und damit letztlich auch Kosten zu senken.
Wie geht es mit Ihrer Methode weiter? Steht sie auch weiteren Interessenten aus der Industrie zur Verfügung?
Dr. Martin Hofstetter: In jedem Fall! Die Technologie ist an der TU Graz angesiedelt, das geistige Eigentum liegt bei uns. Wir haben aktuell Kooperationspartner aus der Industrie – und wir sind offen für weitere Partnerschaften, auch für andere technische Produkte und in anderen Branchen. Denn die Grundidee, das schnelle, KI-basierte Finden optimaler Lösungen in einem hochkomplexen Anforderungsraum, lässt sich sehr gut auch auf andere Anwendungsfelder übertragen.

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