Wirtschaftliche Potenziale der Ergonomie in der Produktion
Aktuell wird wieder diskutiert, dass in Deutschland zu oft „krankgemacht“ wird, nachdem die durchschnittliche Zahl der AU-Tage erneut angestiegen ist. Dabei wird gerne übersehen, dass allein durch den demographischen Wandel aufgrund der älter werdenden Belegschaften mehr AU-Tage anfallen. Ältere Mitarbeitende sind zwar nicht unbedingt viel häufiger krank, dafür aber pro AU-Fall linear ansteigend länger (QUELLE: AOK-Fehlzeitenreports). Und das durchschnittliche Alter der Beschäftigten in den letzten 20 Jahren ist um knapp fünf Jahre gestiegen und wird in den nächsten Jahren auch noch weiter ansteigen.
Eine Möglichkeit etwas gegen die immer höheren AU-Tage zu unternehmen ist eine verbesserte Ergonomie. Dieses oft unterschätzte Thema bietet nicht nur gesundheitliche Vorteile für die Mitarbeitenden, sondern auch signifikante ökonomische Chancen für Unternehmen.
Wirtschaftliche Aspekte der Ergonomie
Die Implementierung ergonomischer Maßnahmen in der Produktion kann zu beachtlichen Kosteneinsparungen führen. Durch die Senkung von Ausfallzeiten und Krankheitstagen sowie die Verringerung von Arbeitsplatzrotationen und Einarbeitungskosten lassen sich direkte finanzielle Vorteile erzielen. Darüber hinaus führt eine verbesserte Ergonomie zu einer Produktivitätssteigerung. Optimierte Arbeitsabläufe steigern die Effizienz, während gleichzeitig Fehlerquoten und Ausschuss reduziert werden. Dies resultiert in einer höheren Gesamtproduktivität und Qualität. Ein oft übersehener Aspekt ist der Wettbewerbsvorteil, den Unternehmen durch ergonomische Verbesserungen erlangen können. Eine ergonomisch optimierte Arbeitsumgebung steigert die Arbeitgeberattraktivität und verbessert das Unternehmensimage, was in Zeiten des Fachkräftemangels von unschätzbarem Wert sein kann.
Arbeitsplatzkataster und Leitmerkmalmethodik
Ein systematischer Ansatz zur Verbesserung der Ergonomie ist die Erstellung eines Arbeitsplatzkatasters. Dieses umfasst die Erfassung aller wesentlichen Tätigkeiten und deren Bewertung nach ergonomischen Maßstäben, z.B. mit der Leitmerkmalmethodik der BAuA. Diese Methodik ermöglicht es, mit geringem Aufwand die Belastungen der zu untersuchenden Tätigkeiten abzuschätzen, ohne dass umfangreiche Fachkenntnisse erforderlich sind. Dabei werden die Bereiche
- Heben und Tragen
- Ziehen und Schieben
- Manuelle Arbeitsprozesse
- Ganzkörperkräfte
- Körperfortbewegung und
- Körperzwangshaltungen
detailliert nach den Kriterien
- Zeitdauer/Häufigkeit
- Lastgewicht
- Körperhaltung und
- Ausführungsbedingungen
untersucht.
Transparente Ergebnisse
Es entsteht eine transparente Übersicht der körperlichen Belastungen, die insbesondere auch dabei hilft, Diskussionen über die jeweilige individuell gefühlte Beanspruchung weniger emotional, dafür sachbezogener und anhand von vergleichbaren Zahlen zu führen. Regelmäßige Vorher-Nachher-Vergleiche dienen der Erfolgsdarstellung und dem Abgleich mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement. Auf Basis dieser Analysen können Sofort-Gestaltungsmaßnahmen umgesetzt werden sowie längerfristige Prozess- und Arbeitssystemanpassungen priorisiert werden. Auch ist die Festlegung von Jahreszielen möglich, die z.B. alle Tätigkeiten über bestimmten Grenz- oder Punktwerten zur Überarbeitung heranzieht. Bei der Neuplanung von Prozessen und Arbeitsplätzen kann schließlich darauf geachtet werden, dass diese bestimmten Grenzwerte schon in der Planung nicht überschreiten.
Maßnahmen und Umsetzung
Die Umsetzung ergonomischer Verbesserungen erfolgt auf drei Ebenen:
- Persönliche Maßnahmen: Dazu zählen die Bereitstellung ergonomischer Hilfsmittel, die verhaltensspezifische Schulung und die Förderung der Gesundheitskompetenz der Mitarbeitenden.
- Organisatorische Maßnahmen: Diese umfassen veränderte Arbeitsorganisation, angepasste Prozesse, Arbeitsplatzrotation und optimierte Pausengestaltung.
- Technische Maßnahmen: Hierzu gehört die Anpassung von Arbeitsplätzen und Werkzeugen.
Oft sind es schon kleine Veränderungen, die große Auswirkungen auf die Ergonomie haben. Dazu gehören insbesondere die Verbesserung von Körperhaltungen z.B. durch höhenangepasste Arbeitssysteme oder die Vermeidung und Reduzierung von statischen Haltekräften. Auch hohe Wiederholungsraten, die sogenannten repetitiven Tätigkeiten, sind ein unterschätzter Aspekt in der Ergonomie.
Bei eingeführtem Arbeitskataster sind Belastungsreduzierungen an kritischen Arbeitsplätzen um bis zu 70 Prozent keine Seltenheit, Produktivitätssteigerungen um 10 bis 15 Prozent durch Verringerung von Prozessvarianzen und Wegfall unnötiger Bewegungen der Mitarbeitenden ein Zielwert, der den Aufwand für die Erstellung des Arbeitskatasters schnell wirtschaftlich werden lässt.
Ausblick
Die Ergonomie erweist sich als strategischer Hebel für den Unternehmenserfolg. Eine proaktive Implementierung von Ergonomieprogrammen kann signifikante wirtschaftliche Vorteile bringen. Zukünftig werden KI-gestützte Ergonomieanalysen noch präzisere und effektivere Maßnahmen ermöglichen.
Über den Autor:

Dipl.-Ing. (RWTH) Stefan Pruchniewski, Geschäftsführer der Wechselwerk GmbH, Waldkirch
Nach dem Maschinenbaustudium an der RWTH Aachen hat Herr Pruchniewski im Konzernumfeld und in der Selbstständigkeit 30 Jahre Berufserfahrung im Anlagenbau und der Produktion gesammelt. Als technischer Leiter und Chef der Logistikplanung des größten deutschen Handelskonzerns war er u. a. mit der Gestaltung von ergonomischen Prozessen und Arbeitsplätzen betraut. Diese Schwerpunkte zählen auch im Rahmen seiner Selbstständigkeit zu seinem Hauptgeschäft. Zudem ist er als Fachausschussleiter in der VDI-Gesellschaft für Produktion und Logistik mit den neusten Entwicklungen am Markt vertraut.
Quellen
[1] AOK Fehlzeitenreport 2024
[2] BAuA, Leitmerkmalmethoden 2019