Fahrzeugbremsen sind luftgekühlt – bisher. Denn im Zuge der Elektrifizierung des Antriebsstrangs zeichnet sich ein grundlegender Wandel ab, hin zu emissionsfreien Bremsen. Zu diesem Thema wird Prof. Dr. Katharina Völkel, ehemalige Abteilungsleiterin an der Forschungsstelle für Zahnräder und Getriebesysteme (FZG) der TU München und seit dem 1. Mai 2025 Professorin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, im Rahmen des VDI-Kongress DRITEV 2025 am 9. und 10. Juli 2025 in Baden-Baden referieren. Im Vorfeld beleuchtet sie Forschungsansätze, Potenziale und mögliche Herausforderungen.
Frau Prof. Dr. Völkel, was spricht aus Ihrer Hinsicht für nasse Fahrzeugbremsen?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Elektromobilität steht für lokale Emissionsfreiheit. Das darf sich aber nicht nur auf die Vermeidung von CO2-Emissionen beschränken, sondern muss perspektivisch auch Reifenabrieb und Bremsstaub einschließen. Insbesondere mit Blick auf die Regularien in Euro-7 sind Lösungen für den lungengängigen und somit gesundheitlich bedenklichen Bremsstaub erforderlich. Die Idee, auf ein gekapseltes nasses Bremssystem umzustellen, gewinnt somit zunehmend an Aufmerksamkeit.
Was sind die technischen Vorteile nasser Bremssysteme gegenüber klassischen trockenen Bremsen?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Ein zentraler Vorteil ist die Kapselung: Verschleißpartikel werden im Öl gebunden und gelangen nicht in die Umwelt, die Bremsstaub-Emissionen werden somit wirksam verhindert. Gleichzeitig ist das System dauerhaft vor Umwelteinflüssen wie Nässe und Eis geschützt. Auch Korrosion und deren Folgen, wie sie oft bei trockenen Scheibenbremsen zu beobachten sind, werden vermieden, da die nasse Fahrzeugbremse im Öl läuft. In der Elektromobilität wird schließlich per Rekuperation gebremst, sodass die mechanische Fahrzeugbremse nur selten zum Einsatz kommt. Eine nasse Bremse ist zudem sehr verschleißbeständig. Damit ist vorstellbar, dass eine Konzeption als Lebensdauerteil erreichbar ist – verbunden mit erheblich niedrigeren Servicekosten.
Welche Voraussetzungen sind dafür zu erfüllen?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Um die gewünschte Betriebssicherheit und gleichzeitig ein hohes Funktions- und Komfortverhalten zu erreichen, ist ein stabiles und optimales Reibungsverhalten in allen Betriebszuständen sicherzustellen – auch bei seltener Aktuierung der Bremse. Mit speziell definierten Hochleistungs-Schmierstoffen lassen sich diese Anforderungen verlässlich erfüllen.
Wie steht es mit möglichen Schleppmomenten und deren Auswirkung auf die Effizienz?
Prof. Dr. Katharina Völkel: In diesem Zusammenhang verweise ich gerne auf die seit langem bewährten Lösungen in Doppelkupplungs- und Wandlerautomatikgetrieben und den damit verbundenen umfassenden Erfahrungsschatz, von dem die Entwicklung nasser Fahrzeugbremsen profitieren kann. Eine Zuführung von Schmierstoff ist nur im Bremsfall erforderlich, was auf den Zyklus bezogen aufgrund der sehr kleinen Zeitanteile nur geringe kumulierte Schlepp- und Strömungsverluste mit sich bringt. Die Ventiltechnologie ist heute schnell genug, um das zuverlässig zu steuern.
Wie sieht es mit der thermischen Belastbarkeit aus – etwa bei einer Gefahrenbremsung auf der Autobahn?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Auch hier sehen wir große Potenziale der nassen Bremse. Die thermische Belastbarkeit nasser Kupplungen und Bremsen ist hoch. Die entstehende Wärme lässt sich über das Gehäuse sowie mittels Ölkühlung zuverlässig abführen.
Zugleich ergibt sich sogar ein positiver Zusatzeffekt: Statt die entstehende Bremswärme an die Umgebung abzugeben, kann sie in einem ganzheitlichen Thermomanagement zur Erwärmung von Antriebskomponenten wie Batterie oder Getriebeöl genutzt werden. Dies kann vor allem bei kalten Temperaturen die Effizienz des gesamten E-Antriebsstrangs positiv beeinflussen.
Wo wird die nasse Fahrzeugbremse platziert sein – sicherlich nicht mehr direkt am Rad?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Genau, aufgrund der Ölkühlung kann die nasse Fahrzeugbremse innenliegend auf der Achse oder sogar – in Form eines Monofluidsystems – im Getriebe positioniert werden. Diese Verlagerung reduziert die ungefederten Massen im Rad und eröffnet weitere Potenziale für aerodynamisch optimierte Räder.
Wie weit ist der Entwicklungsstand – reden wir hier noch über reine Theorie oder gibt es bereits konkrete Anwendungen?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Die FZG beschäftigt sich seit fast 40 Jahren mit nassen Kupplungen und Bremsen. Die Übertragung dieses Know-hows auf die Fahrzeugbremse ist aus unserer Sicht zuverlässig darstellbar. Eine zentrale Anforderung besteht vor allem darin, entsprechende Antriebsstrangtopologien zu entwickeln und natürlich die Freigabe nasser Fahrzeugbremsen für den Einsatz im Straßenverkehr zu erwirken.
Welche Rolle spielen Simulationen und KI-gestützte Tools für die Entwicklung der Systeme?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Eine sehr große. Wir sind in der Lage, thermische und thermo-mechanische Prozesse sowie das Schleppmomentverhalten und die Ölverteilung mittels Simulationen zu beschreiben. Zudem haben wir am Lehrstuhl eine KI-gestützte Schleppmomentprädiktion entwickelt, mit der sich frühzeitig Aussagen zur Energieeffizienz treffen lassen. Auch eine digitale Zustandsüberwachung wird eine wichtige Rolle spielen – ähnlich wie heute schon bei modernen Getrieben oder Differenzialen.
Gibt es auch Herausforderungen, die aktuell noch gegen eine Entwicklung von nassen Fahrzeugbremsen sprechen?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Technisch gesehen aus meiner Sicht nicht. Die größten Hürden liegen eher in bestehenden Strukturen. Immerhin handelt es sich bei dem Umstieg von der luft- auf die ölgekühlte Bremse um einen grundlegenden Technologiewechsel mit tiefem Eingriff in die Fahrzeugtopologie – von der Radbremse hin zu einem System in der Achse oder direkt im E-Antrieb. Gesetzliche Vorgaben könnten in den kommenden Jahren dazu beitragen, diesen Wandel voranzutreiben.
Was ist Ihre Prognose – wann könnten nasse Bremssysteme in Serie gehen?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Technisch gehe ich davon aus, dass wir von Seiten der Industrie in den kommenden Jahren erste Prototypenfahrzeuge mit nasser Bremse auf den Straßen sehen werden – die spätere Serienreife hängt unter anderem maßgeblich von der Gesetzgebung ab.
Dabei rechne ich mit einem realistischen Zeithorizont von acht bis zehn Jahren – also etwa 2033 bis 2035.
Letzte Frage: Wird die „nasse Bremse“ aus Ihrer Sicht der neue Standard – zumindest für E-Fahrzeuge?
Prof. Dr. Katharina Völkel: Ja, ich halte das Konzept klar für ein an E-Fahrzeuge geknüpftes System. Dort erfolgen viele Bremsvorgänge ohnehin mit Rekuperation, sodass die nasse Bremse die weiteren Bremsvorgänge übernehmen kann – effizient, emissionsfrei und wartungsarm. Technologisch betrachtet ist die nasse Bremse der nächste logische Schritt.